Paranoia
Mundwinkel hoch, was meine Miene nicht gerade aufhellt, und schaue gelangweilt an ihnen vorbei in die Ferne. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, verloren zu haben.
Draußen zieht eine weitere Etage an uns vorbei, und ich wüsste zu gern, wer diejenigen sind, die erfolgreiche Witze erfinden. Die Allerallerersten. Frag ich mich sehr oft.
Ich schaue auf meine Schnürsenkel. Einer ist halb offen.
11. Stock. Die Jungs steigen aus. Ist das die Möglichkeit, ich glaube noch zu hören, wie die beiden über mich und meine Spaßresistenz feixen, bevor der Lift wieder schließt. Die Beschriftung neben den Stockwerktasten verrät mir, dass sie für eine Anwaltskanzlei arbeiten, deren Firmenname aus sechs Teilhabernamen besteht. So viele Namen, das ist impertinent. Denk ich mir jedes Mal.
14. Stock. Ich steige aus. KENT & PARTNER. Ein riesiges, schwarzumrandetes Chromlogo begrüßt mich. Die ganze Etage gehört der Anwaltskanzlei, für die Joel arbeitet. Er wurde gleich nach seinem Studium hier festangestellt. Das verlief ähnlich wie bei mir. Von der Eliteschmiede direkt in ein Eliteunternehmen. Beste Gesellschaft.
Als sich die Glastür der Lobbygalerie hinter mir schließt, ist es, als hätte ich einen noch ruhigeren Hafen erreicht: gedämpft, klinisch, exklusiv. Ich sehe mich um, ob mich niemand beobachtet und knie mich hin, um den Schuh zu binden. Aber anstatt an dem halb geöffneten Schnürsenkel nur die notwendige zweite Hälfte des Bindevorgangs vorzunehmen, öffne ich den Knoten erst ganz und binde ihn dann komplett neu. Ein Gefangener meiner einstudierten Bewegungsabläufe.
Aus meiner bodennahen Perspektive betrachte ich denhochwertigen, trittschallschluckenden Teppich, der mich an den bei uns im Büro erinnert. (Ich sage immer noch
uns
.) Er hat dieselbe Un-Farbe, weder blau noch grau. Weder weich noch rau seine Beschaffenheit.
Eine Sicherheitskamera surrt, das Objektiv fokussiert mich. Als hätte ich das nicht längst gewusst. Ich stehe auf, hebe den Kopf und streife mit meinem Blick die Linse. Ein reiner Reflex, der jedoch in die gespielte Ordnung eines suchenden Blicks übergeht. Fast schon filmreif.
Hallo, ihr Arschlöcher. Denk ich mir jedes Mal.
22
»Klopf klopf«, sage ich gespielt manieriert und drücke die angelehnte Tür vorsichtig auf. Mittelgroßes Büro in der Vorzugsmöblierung modern-hell. Sonst alles wie überall.
»Mmmh, komm rein«, nuschelt Joel hastig mit vollem Mund, beugt sich vornüber und legt das Sandwich beiseite, das so schlecht zusammengefaltet ist, dass ein Teil des Inhalts herausfällt. Er kaut beschleunigt am letzten Bissen, dabei schießen seine Augenbrauen zum Haaransatz hoch. Sein Haar sitzt wie immer blitzsauber. Er wischt sich den Mund ab und deutet auf einen der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch.
»Iss ruhig weiter«, sage ich und lasse mich in den Sitz fallen. Ich bin ganz froh um jede Verzögerung, da ich immer noch überlege, wie ich Joel mein Anliegen darlegen soll. Schließlich bin ich gezwungen, einen Sachverhalt zu schildern, der aus einer Phase resultiert, an der ich zwar maßgeblich beteiligt war, welche mir aber nur aus zweiter Hand bekannt ist.
»Nein, nein, schon gut. Ich habe nur noch nichts gefrühstückt. Sorry.« Joel schluckt hastig und fegt den halbherzig ins Packpapier gerollten Rest des Brötchens beiseite. Er tut dasgenau mit der lässigen Souveränität, die ich mein Leben lang bestenfalls imitiere.
»Komm, lass dich nicht abhalten, wirklich! Iss bitte zu Ende!«, rufe ich monoton wie ein Roboter. Auf keinen Fall darf ich ihm gestehen, dass ich mich an nichts erinnern kann. Obwohl Joel neben Ben mein engster Freund ist. Aber so was kann sich ganz schnell ändern. Traue niemandem. Insgeheim hoffen wir doch alle, dass der andere scheitert. Man ist immer allein. Pater Cornelius hat mal gesagt: »Zwischenmenschliche Beziehungen sind von einer grundlegenden Feindseligkeit geprägt.« Da hatte er einmal mehr recht, Pater Cornelius, die blöde sadistische Sau.
Wichtig ist also nicht nur, was ich Joel erzählen werde, sondern vor allem, was ich ihm
nicht
erzählen werde.
»So jetzt. Entschuldige. Wie geht’s dir?«, sagt er mit so viel Räuspern, dass ich ihn kaum verstehen kann. Joel hat keinen Bart. Ist keine eins achtzig. Ist nicht blond. Optisch guter Typ, jungenhaft alternd. Er und ich sind gleich alt. Am selben Tag Geburtstag. Er flippte beinahe aus, als wir das herausfanden. Ich nicht. Die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu treffen, der am
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