Paranoia
beginnt und wie überlebenswichtig seine Anstellung in der Firma ist. Wir wollen doch nicht
zu
platt werden. Doch, wollen wir. Er gestikuliert und zeigt halbherzig auf seinen Ehering, dieses weißgoldene, plunderhafte Symbol unnötiger Verpflichtung. Und bekommt dabei feuchte Augen. Nicht doch. Das ist ja peinlich. Richtiggehend entwürdigend, dieses Rudern im Treibsand. Verzweifelt ringt er um jeden Meter. Aber ich weiß, dass sein Kampf vergeblich ist. Jetzt sind wir gleich beide verlegen. Der hat wirklich überhaupt keine Skrupel, mir nicht nur meine Zeit zu stehlen, sondern auch noch mein Fremdschäm-Konto zu plündern.
Als Kind, immer wenn eine der Schwestern oder ein Erziehergedroht hat, mich wegzusperren für etwas, das ich getan hatte, für jede scheiß Kleinigkeit, dann habe ich meine Augen zugemacht und mir ganz fest vorgestellt, dass nichts für immer ist und dass sogar das Schlimmste, das einem zustoßen kann, irgendwann später, vielleicht viel später etwas Gutes in einem bewirken kann. Weil die Zukunft alles ist, was man hat. Ein bisschen profitiert man von jedem Ereignis, selbst wenn man das in jenem Moment nicht glauben mag. Und mit diesem Gedanken habe ich mir das Schreien abgewöhnt und das Weinen. Ich habe aufgehört, mich gegen das Unabänderliche zu wehren, in der Hoffnung, meine Stille und die Zeit mögen dem Spuk ein Ende bereiten. Ich weiß nicht, ob das richtig war. Ich weiß nicht, ob wirklich jede Wunde verheilt. Aber wahrscheinlich ist es damit so, wie mit allem, was man denkt – es ist vollkommen richtig und doch nur zur Hälfte wahr.
Ivan macht auf jeden Fall gerade genau das Falsche. Er liefert sich mir aus. Scheint die Regel nicht zu kennen: Wer die Macht hat, missbraucht sie auch. Darum gib niemandem das Gefühl, er hätte Macht über dich. Merksatz von Pater Cornelius. Er wusste immer, was wann tun. Was wann sagen. Er wusste immer, was er uns beibringen wollte. Unendliche Lebensklugheit, philosophische Leitfäden. Unstimmig an Papas, äh, an Pater Cornelius’ mannigfachen Weisheiten war bloß, dass er an uns das Gegenteil von dem praktizierte, was er predigte. Wir konnten machen, was wir wollten, wir waren seiner unseligen Macht hilflos ausgeliefert. Aber das ist lange her.
Ich versuche, das hier zu beenden, tätschle Ivans Schulter und sage: »Mr. Sokolow, don’t worry. Trust me. Everything will be fine, you’re in no danger, okay? Believe me, seriously.« Eine gnadenlose Übung in hochgestochener Schäbigkeit. Verständniskontingent längst aufgebraucht. Ich zähle ihn innerlich an. Er speichelt beim Sprechen sogar in die Mundwinkel. Ich lege die Hand auf die Klinke. Wippe mit einem Fuß. Nicke. Sehe:Offenbar zittert er. Jede Faser meines Körpers kommuniziert: So jetzt aber! Geduldsfaden längst gerissen! Dann doch schneller als erwartet, endlich Ende, thematisch von selbst leer geblutet. Vielleicht kann er auch einfach sein eigenes schlechtes Englisch nicht länger ertragen. Ich halte Ivan Lendl die Tür auf und zwinkere ihm noch mal zu. Pure Herablassung im vorgespielten Mitgefühl. Ein bisschen kann ich ihn ja verstehen. Aber trotzdem. Ich bin viel zu sehr mit meinen Selbstzweifeln beschäftigt, um noch Mitgefühl für andere übrig zu haben. Und selbst wenn dieser Russe das nie glauben würde, im Gegensatz zu mir geht es ihm blendend. Womöglich gleicht sich jetzt alles nur einfach aus.
»Do swidanija.«
»Do swidanija.« Mein Blick sagt: Keine Gefahr für Sie. Indianerehrenwort. Er verlässt den Raum mit einem dankbaren Lächeln. Da geht er hin, Ivan Ivanowitsch. Wie leicht es doch ist, einen verängstigten Menschen dazu zu bringen, in dir einen Seelengefährten zu sehen. Durch den Zufall, auf mich getroffen zu sein, wird sich Ivans Leben jetzt negativ verändern. Nur solange der blinde Zufall dich verschont, bleibt alles halbwegs so, wie es ist.
Ich vermerke mir: Ivan Sokolow, Dipl.-Ing., der Mann wird nicht mehr benötigt.
Da hat dir dein Diplom auch nichts gebracht, Wertester.
Mein Blick schweift durch das Zimmer. Die zusammengewürfelten Büromöbel hier drin gehen mir derart auf die Nerven, wie Büromöbel es eigentlich nicht können sollten. Ein schlechtes Zeichen. Meine vierzehn Tage Nowosibirsk werden kein Zuckerschlecken. Kein freier Tag. Ich kann eben einfach nicht auf der faulen Haut liegen. Irgendwann habe ich die Fähigkeit verloren, etwas Positives zu empfinden und mich zu entspannen. Und jedes andere tiefe Gefühl. Außer Angst und Hass. Aber ich
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