Paranoia
Nötigste. In den nur sechs Tagen, die ich hier bin, sind wir mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem wir uns nur noch mit einem knappen Nicken begrüßen, wie zwei alte Erzfeinde, die sich gegenseitige Achtung aber nicht verweigern. Der Knabe spinnt seine Intrigen derart komplex, dass er dabei fast schon selbst den Überblick verliert.
Zurück zu Marischkas entgegenkommendem Angebot, dieser als Unterstützung getarnten Überprüfung. Reine Berechnung. Vielleicht unsere eine große Gemeinsamkeit. Ich, aufrichtig: »Besten Dank, aber soweit sind wir optimal aufgestellt.«
Marischka sieht mich an, prüft meinen Blick ohne Eile und mit ernster Gründlichkeit. Dann sagt er: »Gut. Bis später«, dreht sich um, lacht lauthals über etwas, das ihm Premrow zugeflüstert hat, und verlässt den Raum. Mit dem Zuschlagen der Tür bricht sein Lachen ab. Ich greife mir in meinen etwas zu engen Hemdkragen, reibe an meiner gereizten Halspartie und schnuppere dabei gleichzeitig unauffällig. Die konkurrierenden After Shaves sämtlicher eben Anwesender lassen den bedrückenden Raum noch enger wirken.
Ich schaue auf die Uhr, warte noch etwas, um sicherzugehen, dass der Tross um Seine Durchlaucht den General sich verzogen hat, und verlasse mein Büro. Gehe und hole mir einen Kaffee. Werfe mir was ein. Instruiere einen aus meiner Crew, den ich in seinem Büro aufsuche. Kehre in mein eigenes zurück. 11 Uhr ist es. Ein Russe kommt rein. Das nächste Interview beginnt. Bis 15 Uhr 30 arbeite ich durch und unterbreche immer bloß kurz, um lebensnotwendigen Bedürfnissen nachzukommen.
Um 15 Uhr 32 summt mein iPhone. Wenn man so heißt wie ich, ist man gezwungen, sich am Telefon immer mit vollständigem Namen zu melden. Oder man sagt einfach nur »Hallo«! Ist sowieso klüger. Also: »Hallo?« Joel ist dran. In seiner Inkarnation als mein Anwalt. Lutz & Wendelen haben mir vorgestern tatsächlich gekündigt. Diese Ratten. Ich bin gefeuert. Joel und ich planen nun, anhand einer Klausel in meinem Arbeitsvertrag auf eine zusätzliche Abfindungssumme zu klagen. Solange wir uns also in dieser juristischen Schwebephase befinden, darf niemand von meinem Marischka-Job wissen, sonst wird das von L & W noch gegen mich verwendet. Joel ist der absolut Einzige, der informiert ist. Und seitens Marischka sehe ich in Sachen Diskretion keine Probleme. Er ließ mich nämlich eine zusätzliche Schweigeklausel unterzeichnen. Sehr viele oberste Industrielenker möchten nicht, dass bekannt wird, dass sie Berater hinzuziehen. So was verletzt ihre Eitelkeit, sie wollen sich alles auf die eigene Fahne schreiben. Und hier und jetzt kommt mir diese Geheimhaltungsstufe sehr entgegen.
Joel klingt etwas belegt. Er hat News. Die Verbindung ist exzellent. Er teilt mir mit, Lutz & Wendelen sind nicht bereit, unseren Abfindungsforderungen zu entsprechen. War zu erwarten. Sie werden versuchen, Gründe zu finden, die gegen meine vertragliche Kündigungsklausel sprechen. Joel hatteLutz persönlich an der Strippe, und er meint, es wurde laut zwischen ihnen. Harte Bandagen, »So nicht, nicht mit uns«-Gelaber, wir sollen ruhig klagen, dann werden wir schon sehen, et cetera. So weit Joel Wagner. Und dann noch mal Joel Wagner: »Hör zu, Connie, die werden auf die Psycho-Karte setzen.«
Ich knete am Ladekabel, während ich zuhöre. Schließe die Augen, während die Panik in meine Seele kriecht.
Er fährt fort: »Die werden psychische Probleme ins Feld führen. Hörst du?«
Ich murmle gedankenverloren ein Hmm, als hätte ich eine Wahl.
»Warum hast du mir das mit dem Brief nicht gesagt?«, zischt Joel beschwörend.
»Was meinst du?«
»Du weißt, was ich meine.«
Ich schweige und stütze mich mit den Ellbogen auf den Tisch, der sich zu bewegen scheint.
»Du weißt, was ich meine, Connie. Der Brief fängt mit Fuck an und hört mit Shit auf. Klingelt’s?«
So, wie er das sagt, sollte die Antwort »Ja« lauten. Er lässt eine Pause, ich unterbreche sie nicht. Stattdessen beiße ich mir in die Innenseite meiner Unterlippe. So fest, dass es zu bluten beginnt. Es tut höllisch weh. Ich fahre mit der Zunge über die Schnittwunde, ich spüre rohes Fleisch. Dann beiße ich noch mal auf die Stelle. Kurz möchte ich stöhnen vor Schmerz. Nichts da.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«
Ich habe das Vertrauen zu mir verloren. »Frag nicht.«
»Was ist los, Connie?«
»Frag nicht«, sage ich, lauter als zuvor.
»Du hättest es mir sagen MÜSSEN, verdammt!«
Dagegen
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