Paranoia
hyperventilieren. Panisches Greifen nach den Atemmasken. Gesichter zucken. Ein Kurzschluss kappt die Beleuchtung. Alles wird verschwommen und dunkel, und man hört jemanden »Help!« rufen. Und dann nichts mehr. Nur Leere und Schwärze. Die Notbeleuchtung schaltet sich ein. Alarmierte Gesichter. Ungläubigkeit gesellt sich zu dem Horror in ihren synchronen Blicken. Und plötzlich beginnt Barry Manilow »Mandy« zu trällern. Ein Versehen, eine Fehlfunktion der Bordelektronik. Mit einem Mal fällt auch der Höllenlärm auf, der mit dem Fahrtwind durch die runde Aussparung in der Außenwand eindringt.Leise beigemischt ertönt
Oh Mandy, well you came and you gave without taking
.
Unterdessen murmelt der Fluglotse im Moskauer Tower zu den Kollegen hinter seinem Rücken, die gebannt über seine Schulter auf das Radar starren, dass die Maschine noch achtzehn Minuten von Moskau entfernt ist. Eine Notlandung kann nur am Zielflughafen stattfinden, er ist der nächstgelegene. Ein ganzes Gate wird abgesperrt und zum Notlager umfunktioniert, die höchste Alarmstufe ausgerufen.
Die Sogwirkung der achtzig Zentimeter breiten Sprengöffnung ist enorm. Conrad sitzt nur wenige Meter entfernt davon, in der Sitzreihe jenseits des Gangs. Lediglich halb soweit entfernt, zwischen ihm und der Öffnung, befindet sich eine hochschwangere Frau, die die Sesseldreiergruppe direkt neben dem Loch ganz für sich hat. Sie sitzt auf dem mittleren Stuhl.
But I sent you away, oh Mandy
. Wild wehende Haare. Verzweifelt versucht sie, sich an ihren Armlehnen festzukrallen, sie gleitet ab und probiert es an irgendwas anderem, aber das Material zerreißt in ihren Händen.
Well you kissed me and stopped me from shakin
’. Ruckartig wird sie von dem Luftstrom aus ihrem Sitz gehievt, kippt zunächst fast vornüber und hat keine Chance, an irgendetwas Halt zu finden, als sie mit ungeheurer Wucht rücklings in Richtung der Öffnung gesogen wird. Ihr Körper wird von dem Leck förmlich aufgenommen. Ihr Hinterkopf schlägt mit grausamer Kraft gegen den oberen Rand, und ihr unförmiger Köper, ihre Arme und Beine verhaken und verkeilen sich so im Rahmen, dass ihr Rücken und Hintern aus dem Flugzeug hängen und die gesamte Öffnung ausfüllen, wie der Stöpsel einer Badewanne. Schlagartig stoppt der Luftzug, jetzt wo sie die Öffnung mit ihrem üppigen Hinterteil wie ein Korken versiegelt. Blut läuft ihr über die Stirn, sie schreit wie am Spieß, zappelt hilflos, strampelt mit letzter Kraft, wie eine Wahnsinnige, versucht sich zu befreien, schafft es nicht. DieGnade der Bewusstlosigkeit wird ihr verwehrt. Es kann sich nur noch um wenige Momente handeln, bis sie vollends in den Orbit katapultiert wird. Für den Bruchteil einer Sekunde blickt sie hilflos in Pengs Gesicht. Der einzige Grund, weshalb sie noch pfropfengleich feststeckt, liegt in ihrer Körperfülle begründet, ihr Torso ist zu breit für den achtzig Zentimeter breiten Riss. Kreischend streckt sie eine Hand hilfesuchend aus.
And I need you today, oh Mandy
. Sie steht unter Schock, sieht niemand Bestimmtes heulend und flehend an, bedeutet mit ihren Gesten, ihr zu helfen. Erneut setzt ein Schlingern ein, und die Maschine beginnt zu wackeln. Mit einem verdächtigen Glanz in den Augen öffnet Conrad Peng seinen Gurt, schiebt Ben Kerschenbaums Arm beiseite, der sich – in der Absicht, ihn zurückzuhalten – um seine Schulter legt und verlässt seinen Sitz.
Oh Mandy
.
34
Vierzehn endlose Minuten später setzt die Maschine auf. Also waren die beiden Düsenjäger, die die Tupolew die letzten Kilometer flankiert haben, doch Geleitschutz und kein Abschusskommando. Erleichterung in einer ihrer vielfältigen Formen. Das Gefühl, man könnte vielleicht noch mal davongekommen sein, macht sich in den Köpfen der Leute breit.
Als das Flugzeug zum Hangar ausrollt, wird es von zahllosen Feuerwehrwagen verfolgt. Die Augen der Passagiere, die aus den Fenstern schauen, haben Mühe, die vorbeiziehenden Gebäude und Gegenstände scharf zu sehen. Ihre Pupillen flackern hin und her. »Mandy« spielt nicht mehr. Gar keine Musik. Die Maschine kommt schließlich ruckartig zum Stehen. Ein Tanklaster sprüht Schaum auf die Tragflächen. Ein Militärhubschrauber kreist jetzt über der Tupolew. Die Düsenjäger habenabgedreht. Mit der niedrigen, basslastigen Frequenz der Rotorblätter übertönt der Helikopterlärm die Sirenen der Einsatzfahrzeuge.
Auf der Anzeigetafel in der Ankunftshalle des Airport Moskau erscheint das
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