Parasiten
schnaubte
genervt. »Ein beschissener Beruf. Immer wissen alle was, nur wir nicht.«
Christian musste lachen: »So habe ich das noch nie gesehen. Aber
stimmt. Wir sind die Trottel auf Schnitzeljagd. Wird Zeit, dass wir ein paar
Schnitzel finden.«
ADAGIO
Ich habe Ihnen doch von den Milben
erzählt. Und den Fischchen im Amazonas. Ich war natürlich nie im
Amazonasgebiet. Aber da muss man auch gar nicht hin. Weil, kaum kratzt man sich
wegen der blöden und wirklich harmlosen Milben auch nur eine Stelle an seiner
Haut auf, schon ist da ein Loch. Ein Tor. Und dann kommen die kleinen Würmer.
Die sind so winzig, dass man sie zuerst gar nicht bemerkt, geschweige denn
sieht. Es kitzelt unter der Haut. Es kribbelt, und man weiß nicht, wieso.
Zuerst denkt man, man ist nervös, das kribbelt ja auch. Und jeder hat mal
Grund, nervös zu sein, ist es nicht so? Aber dann kommt irgendwann mal so eine
halbe Stunde, wo man eigentlich ganz entspannt ist und überhaupt nicht nervös.
Und es kribbelt trotzdem. Am Arm vielleicht, am Unterarm. Und dann kratzt man
sich und guckt hin. Und dann sieht man, dass sich direkt unter der Haut etwas
Winziges bewegt. Natürlich glaubt man das nicht, weil, was soll sich schon
unter der Haut bewegen. Außer dem eigenen Blut natürlich, aber das sieht man ja
nicht, also normalerweise nicht. Aber beim zweiten Mal, wenn es wieder kribbelt
und man wieder kratzt und sich wieder was bewegt, dann guckt man schon genauer
hin. Und ich sage Ihnen, das ist ein totaler Schock! Das ist geradezu eine
Schockstarre, wenn man auf seinen Unterarm guckt, auf die Innenseite, und man
sieht plötzlich eine winzige, wurmförmige Wölbung, die sich nach oben
schlängelt, direkt unter der dünnen Haut an den Pulsadern. Unfassbar! Wenn man
das zum ersten Mal sieht und begreift, dann stockt einem der Atem und das Blut
und alles, auch der Verstand. Weil es fremd ist. Und in der Sekunde, wo man
begreift, dass da was Fremdes ist, im eigenen Körper, da wird einem richtig
schlecht. Vor Angst und Ekel.
9. April 2010
Chişinău, Moldawien.
Beim Landeanflug krallte Sofia ihre Hände in die Seitenlehnen.
Ein kräftiger Frühlingswind rüttelte die Maschine durch. Sofia hatte keine
Flugangst, aber sie war extrem angespannt, weil sie nicht wusste, was sie nach
der Landung erwartete. Am Morgen hatte ihre Mutter Ileana angerufen. Sie hatte
geweint. Sofias siebzehnjährige Schwester Alina war in der vorigen Nacht
verschwunden, und die Polizei konnte oder wollte nicht weiterhelfen. Als Sofia
das hörte, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter, ihr Herz krampfte sich
zusammen, und sie dachte an die Drohung des Mannes, der sie besucht hatte. Zwei
Stunden später saß sie im Zug nach Hamburg, flog von dort nach Wien, wo sie die
nächste Maschine nach Moldawien bestieg. Die Stewardessen und die anderen
Fluggäste hatten sie beim Einsteigen mitleidig angesehen, denn noch immer war
ihr Gesicht geschwollen und voller dunkler Flecken. Sicher hatten die meisten
gedacht, dass sie von ihrem Ehemann geprügelt wurde. Es war Sofia egal. Sie
dachte nur an ihre kleine Schwester. Sofia betete. Sie betete für Alina. Dass
ihr nichts passiert war. Dass sie fröhlich am Tisch in der elterlichen Wohnung
in der Strada Tisa sitzen und an einem Kakao schlürfen würde, wenn sie eintraf.
Dass es falscher Alarm war und der Mann, der nachts bei ihr gewesen war, nichts
mit Alinas Verschwinden zu tun hatte. Sofia war übel. Egal, was sie hoffte und
wünschte, und egal, wie viel sie beten würde. Sie fühlte deutlich, dass etwas
Grauenvolles passiert war. Und Alina nichts dafür konnte. Sie war schuld.
Danylo war schuld. In was hatte er sie da reingezogen? Sie, und nun auch ihre
Familie. Sofia wünschte sich, sie könnte Danylo verraten – falls er denn
überhaupt noch lebte. Ohne Zögern würde sie ihn verraten, an die Polizei oder
den Mann, der sie verprügelt hatte. Wenn sie damit ihre Schwester retten könnte.
Sofia schaute aus dem Fenster und versuchte sich zu beruhigen. Chişinău. Sie dachte an den russischen Dichter
Puschkin, der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als Übersetzer nach Chişinău strafversetzt worden war. »Verfluchte
Stadt Kischinjow, die Zunge wird nicht müde, Dich zu beschimpfen«, hatte er
geschrieben.
Von oben, aus dem Flugzeug sah man gut, wie grün die Stadt war.
Obwohl Sofia weitaus mehr Jahre in Moskau gelebt hatte, betrachtete sie Chişinău als ihre Heimat. Als sie nach Moskau an
die Musikschule kam, waren die
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