Parasiten
Eltern hinterhergezogen. Sie wollten in ihrer
Nähe sein. Ihr Vater Radu, ein Russe aus Nowosibirsk, hatte bei der Bahn in
Moskau eine Anstellung gefunden. Doch nach wenigen Jahren wurde er gekündigt.
Die wirtschaftliche Situation der Eltern hatte sich rapide verschlechtert, und
als ihre Mutter Ileana die Chance bekam, einen kleinen Kiosk aus Familienbesitz
in Chişinău zu übernehmen, zogen sie
schweren Herzens nach Moldawien und ließen Sofia in Moskau zurück. Von da an
hatte Sofia nur noch Danylo und ihren liebevollen Geigenlehrer, der in Radus
Abwesenheit die Vaterrolle übernahm. Wie glücklich war sie immer gewesen, wenn
sie in den wenigen und kurzen Ferien nach Hause zu ihren Eltern fahren durfte.
Das heruntergewirtschaftete Chişinău
erschien ihr damals wie ein Paradies. Im Kiosk der Eltern gab es immer bunte Bonbons,
und dann war eines Tages auch noch das Baby da, das fröhlich krähte, wenn Sofia
es stundenlang knuddelte. Und wie stolz war sie, als sie erste Gagen von
Auftritten nach Hause schicken konnte und die Mutter davon Kleider für Alina
kaufte oder Stoff, um neue Vorhänge zu nähen.
Mit dem Minibus fuhr Sofia eine knappe halbe Stunde vom Flughafen in
die Innenstadt. Ihr Vater hatte angeboten, sie mit dem klapprigen Wagen abzuholen,
doch sie hatte ihn gebeten, bei der aufgelösten Mutter zu bleiben. Vom Bus aus
betrachtete sie die altbekannten Straßen. Der Frühling war hier schon deutlich
weiter. Die vielen Bäume, die die Alleen säumten, knospten in allen
Grünschattierungen. Noch verdeckten sie nicht vollständig den Blick auf die
Häuser. Wunderschöne Architektur aus den verschiedenen Epochen, die zum größten
Teil dem Verfall preisgegeben war, wechselte sich mit Bausünden der letzten
Jahrzehnte ab, an denen ebenfalls schon der Zahn der Zeit nagte. Dazwischen
arbeitslose, auf dem Gehweg herumsitzende und rauchende Männer, spielende und
Fahrrad fahrende Kinder, und – je näher sie der Innenstadt kamen – nach
westlichem Vorbild gekleidete Jugendliche, die ihren hoffnungsvollen Träumen hinterherhasteten
auf der Suche nach irgendeiner Arbeit, irgendeiner Chance, oder an den
Eingängen der Parks herumlungerten, wenn sie sich schon ergebnislos die Sohlen
herunter- und die Füße plattgelaufen hatten.
Als Sofia endlich vor dem Elternhaus in der Strada Tisa stand,
konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Anspannung war einfach zu
groß. Ihr Vater öffnete, noch bevor sie klingeln konnte. Er erschrak sichtlich
über ihre Gesichtsverletzungen, nahm sie jedoch erst einmal wortlos in die
Arme. Ileana saß im Wohnzimmer. Sie trocknete sich die Tränen, stand auf, ging
Sofia entgegen und stutzte: »Wer hat dir das angetan, Liebes?«
Sofia wiegelte ab: »Ein blöder Fahrradunfall. Sieht viel schlimmer
aus, als es ist.«
Ihre Eltern ließen es vorerst dabei bewenden. Jetzt gab es größere
Probleme. Sofia bezog ihr früheres Zimmer, legte ihr Gepäck ab, das aus einer
kleinen Reisetasche bestand und ihrer Geige. Die Geige war stets dabei. Sofia
übte jeden Tag mehrere Stunden, egal, wo sie war. Ob müde oder krank oder
unglücklich, die Geige war nicht nur harte Arbeit, sie gab ihr Halt. Ohne Geige
war sie nichts. Sofia öffnete sorgsam den Koffer und ließ sie atmen. Dann ging
sie hinunter ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern warteten.
Bei einem starken schwarzen Tee erzählte Ileana, dass Alina am
vorigen Abend mit ihren Freundinnen Dana und Silvia ins ›Black Elephant‹
gegangen sei, um sich das Konzert einer einheimischen Rockband anzuhören.
Während des Konzerts sei sie zur Toilette gegangen, wie ihre Freundinnen
berichteten, und danach nicht mehr aufgetaucht. Die beiden Freundinnen hatten
zunächst vermutet, dass Alina mit irgendeinem Kerl in einer Ecke am Knutschen
sei. Als sie aber gar nicht mehr auftauchte, ärgerten sie sich über Alinas
sang- und klangloses Verschwinden und begannen sich schließlich zu sorgen. Es
war nicht Alinas Art. An ihr Handy ging sie auch nicht. Als das Konzert vorbei
war und Alina weder auftauchte noch zu erreichen war, riefen die beiden Mädchen
bei Ileana an. Sie wollten wissen, ob Alina nach Hause gegangen war. Seitdem
suchten alle nach ihr. Im ›Black Elephant‹ war niemandem etwas aufgefallen. Ein
Barkeeper hatte Alina zur Toilette gehen, aber nicht mehr herauskommen sehen.
Ileana fing wieder zu weinen an. Sofia legte den Arm um ihre Mutter,
während Radu berichtete, was er bei der Polizei erreicht hatte: so gut wie
nichts. »Aus
Weitere Kostenlose Bücher