Parasiten
ihn, ganz sicher. Zu Recht. Er hasste sich selbst. Henning
war tot.
Danylo hatte Sofia auf ihrer Festnetznummer und auf ihrem Handy aufs
Band gesprochen, sich demütig für sein Verhalten entschuldigt und gesagt, dass
es ihm gut gehe, soweit das unter diesen Umständen möglich war, und er sich
bald wieder melden würde. Dann hatte er aufgelegt und sein Handy schnell wieder
ausgeschaltet. Danylo kannte sich mit Technik nicht aus, er konnte nicht einmal
einen Computer bedienen. Aber er hatte gehört, dass man Menschen über ihre
Handys orten konnte. Und er wollte definitiv nicht gefunden werden. Weder von
der Polizei noch von sonst jemandem.
Jetzt saß er schon den sechsten Abend in Folge allein an dem kleinen
leeren Pool, sah zu, wie der Wind das wenige vom Vorjahr übrig gebliebene
Herbstlaub am Boden des Beckens raschelnd hin und her blies, betrachtete die
Sterne, lauschte dem Klang der Nacht und begrub seine Zukunft.
Danylo wusste nicht, was er tun sollte. Zur Polizei gehen und ihnen
alles erzählen? Vermutlich würde er nie wieder spielen können, zumindest nicht auf
großen Bühnen und bei renommierten Festivals. Die Branche war empfindlich und
pflegte ihr kultiviertes Image mit Inbrunst. Schon ein langhaariger Geiger, der
in Jeans auftrat, war ihnen ein Dorn im Auge und wurde in die Niederungen der
Unterhaltung weggelächelt. Aber er konnte auf Dauer auch nicht hierbleiben.
Flucht war keine Option. Verstecken ebenso wenig. Danylo Savchenko war kein
Mann, der sich versteckte. Er war ein Mann, der sich zeigte. Er lebte davon, sich zu zeigen.
Also musste er sich wehren. Allerdings wusste er nicht, wie. Er
hatte es nie gelernt, kannte nur Schweigen, Ertragen, Gehorchen, Funktionieren
und Erwartungen erfüllen. Früher, als er noch ein kleines Kind war, das viel
lieber mit anderen Kindern spielen als Klavier üben wollte, hatte ihn sein
Vater Maxym als Disziplinarmaßnahme häufig in kurzen Hosen auf getrockneten
Erbsen knien lassen. Wie hätte er sich dagegen wehren können? Wie konnte er
sich jetzt wehren?
Danylo öffnete die Flasche Cognac, die er aus der gut bestückten Bar
des Hauses genommen hatte, und trank einen großen Schluck direkt aus der
Flasche. Es brannte. Alles in ihm brannte. Er war so allein wie noch nie im
Leben.
Hamburg.
Die Krankenschwester Beatrix Hutter fuhr nach ihrem Dienst
in die Innenstadt und kaufte sich neue Spitzenunterwäsche, zwei Jeans, ein
Shirt und eine neue Jacke. Der Frühling kam, sie war frisch verliebt und das
Leben wieder schön. Die Drohungen, die sie in den vergangenen Monaten erhalten
hatte, blieben seit der Verurteilung ihres berühmt-berüchtigten Patienten
Andres Puri aus. Auf allen möglichen Wegen hatten Unbekannte versucht, sie
einzuschüchtern und von ihrer Aussage gegen Puri abzubringen. Doch sie war hart
geblieben. Als sie die Drohungen bekam, hatte sie ihre Eltern besucht und mit
ihnen gemeinsam über ihre staatsbürgerlichen Pflichten nachgedacht. Ihre
Mutter, eine Biologielehrerin, wusste um die Verletzlichkeit des menschlichen
Körpers und stellte ihre Angst um die Tochter in den Vordergrund ihrer
Argumentation, auch wenn die Polizei Beatrix bis zum Prozess Personenschutz
gab. Sie selbst fürchtete sich auch. Aber die Argumente ihres Vater, Lehrer für
Geschichte und Politik, gaben den Ausschlag: Man darf sich Repressalien niemals
beugen, wehret den Anfängen, sonst geht die Demokratie in den Arsch. Das waren
seine Worte gewesen. Beatrix hatte ausgesagt. Sie bedauerte nur, dass Puri
nicht wegen des Auftragsmordes verurteilt worden war, mit dem er damals im
Januar vor ihr geprahlt hatte.
Nun war der Albtraum vorbei, und sie konnte sich voll und ganz auf
den hübschen, neuen Assistenzarzt konzentrieren, der seit Kurzem auf ihrer
Station arbeitete. Sie fuhr mit der S-Bahn nach Hause und freute sich darauf,
in etwa zwei Stunden ihrem ganz persönlichen Halbgott in Weiß ihre neue
Spitzenunterwäsche vorzuführen.
Im Flur stellte sie ihre Tüten auf den Boden, streifte die
Schuhe ab und ging in die Küche, um sich einen Tee aufzubrühen. Hinter der
Küchentür versteckt erwartete sie jedoch ein Mann, der ihr einen heftigen
Kinnhaken gab. Sie stürzte über einen ihrer Küchenstühle und landete unsanft
auf dem Tisch. Überrascht von der Attacke bekam sie gar nicht mit, dass sie mit
dem Blut auch ihren linken Vorderzahn ausspuckte. Noch bevor sie sich
aufrichten konnte, war der Mann über ihr, legte seine rechte Hand um ihre Kehle
und drückte zu.
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