Parasiten
Katya schien fast wütend. »Die besorgen uns falsche Pässe
aus Fälscherwerkstätten in Polen, Litauen und Rumänien. Damit sind wir dann
polnische, slowakische oder ungarische Frauen und brauchen kein Visum, sondern
nur einen Personalausweis, um in unsere Zielländer einzureisen.«
Sofia wurde schwindlig. »Wieso weißt du das alles?«
»Die Scheiß-Geschichte ist schnell erzählt. Ich wollte raus aus
Rumänien. Mit siebzehn. Irgendein Arschloch versprach mir eine Au-pair-Stelle
in Holland. Bei einer netten, reichen Familie mit netten, reichen Kindern. Ich
hab’s ihm geglaubt, ich dumme Kuh. Es sah alles so echt aus. Man braucht eine
Einladung in das Land. Ein großer westeuropäischer Automobilclub, der mit dem
weißrussischen Reiseveranstalter SMOG kooperiert, besorgt für ein paar Dollar
ein Ersatzpapier für diese Einladung und übernimmt die erforderlichen Garantien
wie Krankenversicherung und Rückreise.«
»Die hängen da mit drin?« Sofias Kopfschmerzen wurden von Minute zu
Minute schlimmer.
»Und ob. Das Ganze ist nichts als ein großer Beschiss. Du landest
nämlich nicht bei einer netten, reichen Familie, sondern in einem elenden
Bordell. Ich war in Den Haag. Nach anderthalb Jahren griff mich die Polizei
auf, ein paar Sozialarbeiter haben sich um mich gekümmert. Rührend. Wollten
mich trösten. Sechs Wochen lang haben sie mich aufgebaut. Dann wurde ich nach
Rumänien zurückgeschickt. Die Ärsche dort haben mich schon am Bahnhof wieder
eingesackt. Die Polizei verrät ihnen nämlich, wann und wo wir zurückkommen.
Raus aus dem Zug, rein in den Lkw. Und alles ging von vorn los. Das hier ist
meine dritte Runde.«
»Wie alt bist du?«, fragte Sofia betroffen. Katya sah aus wie Ende
dreißig.
»Ich bin zweiundzwanzig.«
»Kannst du mir helfen, Alina zu finden?«
»Schlaf jetzt. Du wirst deine Kräfte brauchen«, sagte Katya, legte
sich hin, zog ihre kratzige Decke hoch bis zum Kinn und drehte Sofia den Rücken
zu.
Sofia dachte, soweit sie überhaupt noch denken konnte, dass sie
bestimmt nicht würde schlafen können. Obwohl schlafen im Grunde eine sehr gute Idee
war. Dann würde sie vielleicht in Bremen aufwachen, in ihrer kleinen Wohnung,
und sie würde Kaffee trinken und ein frisches Brötchen mit Bio-Kalbsleberwurst
essen und an die Musikhochschule gehen und ihren semi-begabten Schülern
erklären, was Ausdruck war und wo man ihn herholte. Schlafen war eine gute
Idee.
Hamburg.
Christian bekam erst am Montagmorgen einen Flug zurück
nach Hamburg. Mit Zwischenstopp in München. Es regnete. Die Landung war ruppig.
In Hamburg fegten mal wieder heftige Windböen über die Landebahn. Die Landung
raubte ihm den letzten Nerv. Kurz vor dem Aufsetzen wünschte sich Christian,
Verkehrspolizist in Bhutan zu sein. In dem südasiatischen Königreich gab es
eine einzige Kreuzung, an der der vermutlich einzige Verkehrspolizist des Landes
die gefühlten fünf Autos von rechts nach links winkte. Er hätte inzwischen
Plattfüße, aber an Plattfüßen war noch keiner gestorben.
Vom Flughafen aus nahm Christian ein Taxi nach Hause. Unterwegs
dachte er über die Suworows nach. War es tatsächlich tragischer moldawischer
Alltag, dass junge Mädchen ins Nirgendwo verschwanden? Er hatte am Sonntag
Daniel angerufen und ihn um eine grundsätzliche Recherche zu dem Thema gebeten.
Die Antwort war erschütternd: Das Geschäft mit Frauen aus Moldawien, dem
Armenhaus Europas, blühte. Die Wege der Rekrutierung reichten von
vorgegaukelten lukrativen Jobs für Putzfrauen oder Kindermädchen über
Heiratschancen mit gut situierten Männern bis hin zum Kidnapping des
»Materials« für die Bordelle. Deutschland war Spitzenabnehmer für Frauen aus
Osteuropa, die Quelle spielte dabei keine Rolle.
Bislang hatte Christian immer das Gefühl gehabt, als Kommissar einer
Sondereinheit weitaus mehr als der Durchschnittsbürger vom Leben, seinen Tiefen
und Untiefen mitzubekommen. Nun wurde ihm klar, dass das bestenfalls für
Deutschland gelten mochte. Möglicherweise nur für Norddeutschland oder gar nur
für Hamburg. Was wusste er von da draußen? Europa war ihm ein vager Begriff,
der sich in einem volatilen Euro, wenig zufriedenstellenden Abkommen und
marginaler Zusammenarbeit definierte. Die Schwierigkeiten des europäischen
Konzepts erschienen ihm kompliziert genug, sodass er weder die Notwendigkeit
sah noch das Bedürfnis verspürte, sich auch noch mit den Problemen außerhalb
der gezogenen Grenzen zu belasten.
Nun war er
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