Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parasiten

Parasiten

Titel: Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
Vom Netzwerk:
sich einigermaßen erfolgreich
bemüht, nicht anwesend zu sein. Vielleicht hatte ihr die Spritze dabei geholfen.
Vielleicht war es aber auch die Partitur gewesen, die sie im Geiste
durchgegangen war. Es war Tartinis Trille du Diable gewesen, der Teufelstriller , den sie Note für Note
durchging, und schon nach dem ersten Satz, der mit larghetto
affettuoso überschrieben war, hatte der Boss ermattet von ihr
abgelassen. Sofia hatte es trotzdem für keine gute Idee gehalten, in ihren
Körper zurückzukehren, und sie hatte recht damit gehabt, denn der alte
Ziegenbock war erst der Anfang gewesen. Der Boss hatte sich bei seinen Bodyguards
mit zwei knappen, herrisch klingenden Sätzen über ihre mangelnde Leistung
beschwert und sie frei fürs Geschäft gegeben. Damit war ihr Schicksal besiegelt
worden.
    Genau deswegen befand sie sich nun hier. Sofia wusste nicht so
recht, was das für ein Ort war. Noch nie hatte sie einen solchen Ort gesehen
oder von einem gehört. Genau dreiundzwanzig andere Frauen teilten ihr
Schicksal. Sofia hatte gezählt. Sie musste Ordnung in die Dinge bringen, die
sie nicht begriff.
    Mit zwölf dieser Frauen war Sofia letzte Nacht hier angekommen und
in einer großen Bretterbude voller Pritschen und sonst nichts eingesperrt
worden. Noch immer war Sofia benebelt, konnte sich nicht genau erinnern, was
geschehen und wieso sie hier war. Sie lag auf ihrer Pritsche und fröstelte.
Irgendwann kamen zwei Männer, zerrten sie hoch, nahmen sie mit in einen ebenso
karg eingerichteten Vorderraum und vergewaltigten sie. Sie versuchte, sich zu wehren,
aber sie wurde gefesselt und geschlagen. Als sie wieder auf ihrer Pritsche lag,
konnte sie sich nicht einmal erinnern, ob die Männer jung oder alt, dick oder
dünn gewesen waren. Sie wimmerte nur ein wenig, weil ihr alles wehtat und sie
sich schämte.
    Die junge Frau auf der Pritsche neben ihr herrschte sie an: »Halt
dein Maul und gewöhn dich dran. Oder du verreckst jetzt schon.« Sie wusste
offensichtlich, wovon sie sprach.
    »Wo bin ich hier? Was passiert mit mir?«, fragte Sofia, instinktiv
auf Rumänisch. Ihre Stimme klang teigig, als würde ein anderer Mensch sprechen.
Sie war nicht mehr sie selbst.
    »Du bist in der Nähe von Gomel in Weißrussland in einem Sammellager,
Püppi. Die erste Station auf der ›Heroinstraße‹«, antwortete ihre
Pritschennachbarin, ebenfalls auf Rumänisch.
    »Weißrussland? Heroin?« Sofia fand selbst, dass sie sich wie eine
Schwachsinnige anhörte. So stupide, so fremd, so weit weg.
    Ihre Pritschennachbarin lachte. Dabei zeigte sie ein lückenhaftes
Gebiss. Ihre Figur jedoch war top. »Heroinstraße heißt es, weil früher auf
dieser Route Drogen vertickt wurden. Der Name ist geblieben, nur die Ware hat
sich geändert. Jetzt sind wir die Ware, Püppi. Wir Frauen aus Rumänien,
Moldawien, der Ukraine und Belarus. Sieh dich um. Und weine mit deinen Schwestern.«
    Das Wort »Schwestern« versetzte Sofia einen schmerzhaften Stich in
der Herzgegend. Sie richtete sich auf. »Bist du schon länger hier?«
    »Seit vorgestern. Aber leider nicht zum ersten Mal.«
    »Vorgestern …« Sofia versuchte, sich zu konzentrieren. Ihr Kopf tat
weh. »Hast du meine kleine Schwester gesehen? Alina heißt sie. Ich bin Sofia.
Alina ist verschwunden. Vor ein paar Tagen. Was für ein Tag ist heute? … Egal.
Donnerstag- auf Freitagnacht ist Alina verschwunden. Aus Chişinău. Sie ist erst siebzehn.«
    »Siebzehn … So alt war ich auch, als sie mich das erste Mal gegriffen
haben.« Der Ton der Frau war nun nicht mehr ganz so ruppig. »Ich heiße übrigens
Katya.«
    Katya erhob sich von ihrer Pritsche und rief halblaut in den Raum
hinein: »Mädels! War in den letzten Tagen eine Alina aus Moldawien hier?«
    Keine Antwort. Einige der Frauen gaben sich immerhin die Mühe, den
Kopf zu schütteln. Die anderen dämmerten nur vor sich hin.
    »Aber sie muss doch hier gewesen sein!«,
widersprach Sofia lautstark der allgemeinen Teilnahmslosigkeit. »Ihr müsst sie
doch gesehen haben, erinnert euch! Bitte!«
    Katya drückte Sofia zurück auf die Pritsche. Leise, aber deutlich
zischte sie: »Mach keinen Aufstand, sonst beziehen wir alle Prügel!«
    Sofia begann zu weinen. »Aber … Alina … ?«
    »Das hier ist nicht das einzige Sammellager in der Gegend. Ich kenne
noch eins in Mahiljou, und sicher gibt es noch mehr.«
    »Wieso Sammellager? Bleiben wir nicht hier?«
    »Was sollen wir hier? Hier ist nichts zu holen. Auf welchem Planeten
lebst du eigentlich?«

Weitere Kostenlose Bücher