Parasiten
mittendrin. Es ging nicht um Grenzen, es ging nicht um
internationales Recht und Befugnisse. Es ging um eine Mutter, die
Blaubeerkuchen buk und wollte, dass ihre beiden Töchter mit am Tisch saßen.
Christian verstand, dass das internationale Recht eine Sache der Politiker war,
das familiäre Glück aber eine Sache der Menschen. Wie Glück überhaupt
Privatsache war.
Als Christian gegen Abend in Annas kleiner Hamburger Stadtvilla
ankam, stand sie in der Küche und bereitete einen Salat zu. Christian hätte
lieber ein Steak mit Bratkartoffeln gehabt. Er fühlte sich leer. Anna küsste
ihn und sah ihn prüfend an. »Wie war’s?«
Christian winkte ab, er wollte jetzt nicht darüber sprechen, wollte
nur duschen und essen. Anna verstand und entließ ihn ohne eine weitere Frage
ins Bad.
Das liebte er an Anna. Sie drängelte nicht. Sie fühlte sich nicht
abgelehnt, wenn er sich in sein Schweigen zurückzog. Sie ließ ihn in Ruhe, ließ
ihn sein.
Die heiße Dusche tat ihm gut. Selbst den Salat aß er mit großem Appetit,
und auch das kalte Bier schmeckte. Es gab tatsächlich Momente auf dieser
gepolsterten Eckbank, die ihn seinen Beruf und all das, was da draußen in der
Welt stattfand, vergessen ließen. Er dachte an den Titel eines Buches, der ihm
gut gefallen hatte, wenn auch nicht so gut, dass er das Buch tatsächlich las: Die Möglichkeit einer Insel . Der Alltag mit Anna war seine
Insel.
»Wie war dein Wochenende?«, fragte er.
»Schön. Die Nordsee hat getan, was ich wollte. In beruhigender
Monotonie rein und raus rollen. Zwischendurch war ich in der Sauna und im
Dampfbad. Alles in allem schön ruhig und erholsam.«
Sie fragte nicht noch einmal: »Und bei dir?« Nur deswegen konnte er
zu reden anfangen. Langsam und leise. Als er geendet hatte, sagte Anna:
»Scheiße. Was für eine Scheiße.«
Auch das liebte er an ihr. Klare Ansagen.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Ich hoffe, dass Volker, Pete und Herd ein Stückchen
weitergekommen sind«, sagte er. Er hörte selbst, wie unwillig und deprimiert er
klang. Dabei hätte er zu gerne Hoffnung verbreitet. Aber was er momentan zu
bieten hatte, reichte bei Weitem nicht für Optimismus. »Es gehört Glück dazu.«
13. April 2010
Gomel, Weißrussland.
Glück war eine Kategorie, die in Gomel, wenn überhaupt,
nur in den unrealistischsten Drogenträumen existierte. Die Wirklichkeit bot
lediglich Schmerz, Not, Elend und Unglück.
Sofia dachte nicht in diesen Kategorien. Sie dachte an Alina. Würde
die an einem anderen Ort das Gleiche durchmachen müssen wie sie hier? Die
Vorstellung war grauenhaft. Ihre kleine Schwester sah das Leben durch eine
rosarote Brille, glaubte trotz aller Armut und Chancenlosigkeit an die Balance
von Pech und Glück und war fest davon überzeugt, dass auf Regen ein Sonnentag
folgte. Und nicht ein Tag, an dem es statt kaltem Wasser Scheiße regnete. Sofia
hatte Angst um Alina.
Sofia haderte auch mit ihrem eigenen Schicksal, mit ihrem Versagen.
Wo war Alina? Was war mit Vadim? Wie erging es ihren Eltern? Was konnte sie
tun?
Katya erklärte es ihr kurz und knapp: »Nichts.«
Sofia sah es ein. Für den Moment hatte Katya recht. Sie musste sich
an die Situation anpassen. Anpassung war überhaupt der Schlüssel zum Überleben.
Sofia dachte angestrengt über Dinosaurier nach und über Darwin und über den
Untergang des Römischen Reiches. Damit hatte sie genug zu tun, bis sie gegen
Abend von den Aufpassern mit fünf anderen Frauen von ihrer Pritsche hochgezerrt
und in einen Lastwagen verfrachtet wurde. Zu ihrer Beruhigung war Katya dabei.
Zu den anderen Frauen im Sammellager hatte sie keinen vernünftigen Kontakt
aufnehmen können. Bemüht gelassen setzte sie sich neben Katya auf den harten,
kühlen Boden und kümmerte sich weder um die Dunkelheit noch um den muffigen
Geruch nach Abfällen. Wie zufällig nahm sie mit ihrem rechten Oberschenkel
beruhigenden Körperkontakt zu Katya auf und konzentrierte sich auf das
rhythmische Rütteln des Fahrzeugs. Sie vermisste zum ersten Mal seit Tagen ihre
Geige.
Paris, Frankreich.
Schon immer hatte Paris eine magische Wirkung auf Danylo
ausgeübt. Hier hatte er längere Zeit gelebt, Freunde, Feinde und Erfahrungen
gesammelt, glorreiche Konzerte gespielt, war sogar vor Kofi Annan aufgetreten,
dessen unprätentiöse Freundlichkeit ihn sehr beeindruckt hatte. Auch jetzt
fühlte er sich in dieser Stadt wie nach einer Frischzellenkur. Sicher, die Côte
d’Azur war wunderbar, das Licht
Weitere Kostenlose Bücher