Parasiten
aufs Spiel
setzen. Ileana jedoch befürwortete die Vorgehensweise. Sie war so ängstlich,
dass sie sich selbst an den dünnsten Strohhalm klammerte. Schließlich überredete
sie Radu. Er beschloss, Maxym und Christian zu begleiten, damit die Polizei
sich nicht von zwei Ausländern in moldawischen Angelegenheiten bedrängt fühlte.
Ileana würde zu Hause bleiben, das Telefon bewachen und hoffen, dass Sofia und
Vadim sich bald meldeten oder gar nach Hause kamen.
Die drei Männer zogen gerade ihre Jacken über, als es hinten im Hof
polterte. Radu ging nachsehen. Ein paar Sekunden später schleppte er einen
schwer verletzten jungen Mann ins Wohnzimmer und bettete ihn aufs Sofa. Christian
begriff sofort, dass es sich um Vadim handelte. Er sah schlimm aus, war
blutverkrustet, verdreckt und stank erbärmlich, doch Ileana bestürzte ihn
sofort mit Fragen nach Sofia. Vadim konnte kaum sprechen, er wirkte nicht nur
physisch am Ende. Dennoch setzte er sich mit Müh und Not auf. Vadim spuckte
etwas Blut auf seinen Hemdsärmel, wischte sich den Mund ab, nahm eine Flasche
Wasser vom Tisch und trank gierig, wobei er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht
den Oberkörper hielt. Christian vermutete gebrochene Rippen. Von dem ansteigenden
Stimmengewirr verstand er kein Wort. Auch Maxym konnte dem Rumänischen
offensichtlich nicht folgen. Er befragte Radu auf Russisch, doch der sprach ein
gebieterisches Machtwort. Maxym und Ileana verstummten und ließen Vadim erzählen.
Der sagte nur wenige schleppende Sätze, doch die Wirkung auf Ileana war heftig:
Sie brach auf einem Stuhl zusammen, wurde von einem Weinkrampf geschüttelt und
hyperventilierte. Radu war so schockiert, dass er sich nicht um Ileana
kümmerte, was schließlich Maxym übernahm. Vadim fragte Radu misstrauisch nach
den beiden Fremden, die ihn gespannt anstarrten. Die Information, dass
Christian ein deutscher Polizist war, schien ihm nicht zu gefallen. Ächzend
erhob er sich, sagte noch etwas zu Radu, umarmte Ileana und wollte über den
Hinterhof wieder verschwinden.
Christian versuchte, ihn an der Schulter zu packen und aufzuhalten,
doch Radu trat dazwischen und umklammerte Christians Arm mit einem überraschend
eisernen Griff. Mit finsterer Miene und lauter Stimme sagte er etwas zu Maxym.
»Sie sollen ihn gehen lassen«, übersetzte Maxym. »Das hier ist nicht
Ihre Sache.«
Christian ließ seinen Arm sinken, Radu löste seinen Griff.
»Was ist passiert?«, fragte Christian.
Maxym ließ es sich von Radu zusammenfassen und übersetzte für
Christian: »Sofia wollte Alina loskaufen, doch es ist schiefgegangen. Sie haben
Vadim zusammengeschlagen und Sofia behalten.«
»Bei wem waren sie?« Die Verständigungsschwierigkeiten machten
Christian wahnsinnig.
»Das hat Vadim nicht gesagt.«
»Und dann lassen sie den Kerl einfach so gehen?« Christian schrie
fast. »Himmelherrgottnochmal, was wollen Sie jetzt machen? Weiter warten? Bei
Blaubeerkuchen?«
»Vadim hat Radu und Ileana geschworen, die beiden Mädchen zu finden
und nach Hause zu bringen. Und wenn es sein Leben kostet. Und Sie, Herr Beyer,
befinden sich im Hause von Herrn Suworow und genießen seine Gastfreundschaft.«
»Ich befinde mich im Hause eines Idioten und leide an seiner
Dummheit!«, erwiderte Christian. Maxyms betont kultivierte Art ging ihm
zusehends auf den Wecker.
Radu kümmerte sich inzwischen um Ileana, sprach leise und zärtlich
auf sie ein. Zwischendurch warf er einen mahnenden Blick auf Christian.
Christian versuchte, sich zu beruhigen. Sie hatten recht. Es ging ihn nichts
an. Er war weder Teil der Familie noch ein Freund, noch hatte er irgendwelche
polizeilichen Befugnisse. Aber es erschütterte ihn. Er sah zu Ileana. Die Frau
hatte innerhalb von drei Tagen ihre beiden Töchter verloren – in ein
ungewisses, aber garantiert schreckliches Schicksal.
Er musste zurück nach Hamburg. Von dort aus konnte er Alina und
Sofia auf die Vermisstenliste der SIS setzen und Kontakt zu den europäischen
Dienststellen aufnehmen, die für internationale Schlepperbanden zuständig
waren. Sehr wahrscheinlich würden die beiden Mädchen irgendwann über die
Grenzen nach Westeuropa geschmuggelt werden. Vielleicht sogar nach Deutschland.
Dann gab es eine winzige Chance, sie zu finden. Er hoffte nur, dass sie bis
dahin überlebten. Vor ihnen lag eine Odyssee durch die Hölle.
GRAVE CALANDO
Wenn man zum ersten Mal gesehen hat,
wie sich diese Würmer unter der Haut bewegen, unter der eigenen Haut, wo sie
ganz und
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