Paris im 20. Jahrhundert
wird allen Ernstes gesprochen, aber es wird doch einige Beschwerden mit sich bringen.«
»Also, Quinsonnas«, hob Michel wieder an, »laß uns ernst bleiben!«
»Aber nein! Laß uns vergnügt sein! Ich will dennoch auf meine Behauptung zurückkommen: es gibt keine Frauen mehr; ihre Rasse ist ausgestorben wie jene der Möpse und der Megatherien!«
»Ich bitte dich«, sagte Michel.
»Laß mich fortfahren, mein Sohn; ich glaube, daß es früher einmal, in weit zurückliegender Vergangenheit, Frauen gegeben hat; die damaligen Autoren sprechen ausdrücklich von ihnen; als die makelloseste unter ihnen führten sie sogar die Pariserin an. Nach den alten Texten und den Kupferstichen jener Zeit war sie ein anmutiges Geschöpf, dem auf der ganzen Welt keine das Wasser reichen konnte; sie vereinigte in sich die vollkommensten Laster und die lasterhaftesten Vollkommenheiten, denn sie war
Frau
im wahren Sinne des Wortes. Doch nach und nach verarmte das Blut, die Rasse verfiel, und die Physiologen mußten in ihren Schriften diesen beklagenswerten Untergang feststellen. Hast du irgendwann einmal gesehen, wie aus Raupen Schmetterlinge werden?«
»Ja«, antwortete Michel.
»Nun«, fuhr der Pianist fort, »hier geschah genau das Gegenteil; der Schmetterling wurde wieder zur Raupe. Der geschmeidige Gang der Pariserin, ihr graziöses Aussehen, ihr geistreicher und liebevoller Blick, ihr freundliches Lächeln, ihre vortrefflichen und zugleich so festen Rundungen wichen alsbald langen, mageren, vertrockneten, hageren, abgezehrten, ausgemergelten Formen, einer mechanischen, planmäßigen und puritanischen Ungeniertheit. Die Figur wurde rundherum flach, der Blick kalt, die Gelenke erstarrten, eine harte und steife Nase senkte sich über schmale und verbissene Lippen; der Schritt wurde länger; der Engel der Geometrie, der einst mit seinen verführerischen Kurven so großzügig gewesen war, überließ die Frau der ganzen Unerbittlichkeit gerader Linien und spitzer Winkel. Die Französin ist zur Amerikanerin geworden; sie spricht trocken über trockene Geschäfte, sie stellt sich dem Leben mit Unnachgiebigkeit, sie setzt dem schmächtigen Rückgrat der Sitten zu, kleidet sich schlecht, ohne jeden Geschmack, und trägt ein Korsett aus Zinkblech, das auch dem stärksten Druck standzuhalten vermag. Mein Sohn, Frankreich hat seine wahre Überlegenheit verloren; seine Frauen hatten im bezaubernden Jahrhundert Ludwigs XV. die Männer effeminiert; doch seither sind sie zum männlichen Geschlecht übergelaufen und verdienen weder den Blick eines Künstlers noch die Aufmerksamkeit eines Liebhabers!«
»Fahre nur fort«, antwortete Michel.
»Ja«, entgegnete Quinsonnas, »du lächelst! Du glaubst, etwas in der Tasche zu haben, mit dem du mich aus dem Konzept bringen kannst! Du hältst deine kleine Ausnahme von der allgemeingültigen Regel bereit! Wenn schon! Du wirst diese nur bestätigen, das ist alles! Ich bleibe bei meiner Behauptung! Und ich gehe noch weiter! Keine einzige Frau, welcher Gesellschaftsklasse sie auch angehören mag, ist diesem Verfall der ganzen Rasse entkommen! Das süße Mädel ist verschwunden; die Kurtisane, mindestens so farblos wie ausgehalten, stellt heutzutage eine strenge Unmoral unter Beweis! Sie ist linkisch und dumm, bringt es aber mit Ordnung und Sparsamkeit zu Reichtum, ohne daß sich irgend jemand für sie ruiniert! Sich ruinieren! Ach was! Dieses Wort ist veraltet! Ein jeder bereichert sich, mein Sohn, ausgenommen der Körper und der menschliche Geist!«
»Willst du damit sagen«, fragte Michel, »daß es in der Zeit, in der wir leben, unmöglich geworden sei, einer Frau zu begegnen?«
»Genau, unter fünfundneunzig gibt es keine mehr; die letzten sind mit unseren Großmüttern ausgestorben. Allerdings …«
»Aha! Allerdings?«
»Man kann so etwas noch im Faubourg Saint-Germain antreffen; in diesem Schlupfwinkel des unüberschaubaren Paris wird jene seltene Pflanze noch gezüchtet, die
puella desiderata,
wie dein Professor sagen würde, aber nur dort.«
»Du beharrst also auf der Meinung«, antwortete Michel und lächelte verschmitzt, »daß die Frau einer ausgestorbenen Rasse angehört.«
»Nun ja, mein Sohn, die großen Moralisten des 19. Jahrhunderts ahnten diese Katastrophe bereits voraus. Balzac, der sich auskannte, hat es in seinem berühmten Brief an Stendhal zu verstehen gegeben: Die Frau, sagte er, ist die Leidenschaft, und der Mann ist die Tat, und aus diesem Grund verehrte der Mann die Frau.
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