Paris im 20. Jahrhundert
der Pianist, »da morgen nun einmal Sonntag ist, könnten wir doch deinen Onkel Huguenin besuchen! Ich hätte nichts dagegen, die Bekanntschaft dieses guten Mannes zu machen!«
»Einverstanden!« rief Michel.
»Gut, dann wirst du uns wohl erlauben, zu dritt nach einer Lösung für die gegenwärtige Lage zu suchen.«
»In Ordnung! Das gefällt mir«, antwortete Michel, »und es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nichts fänden!«
»Na! Na!« meinte Quinsonnas, der sich damit begnügte, wortlos den Kopf zu schütteln.
Am nächsten Tag nahm er in aller Frühe ein Gas-Cab und holte Michel ab; dieser erwartete ihn bereits, ging hinunter, sprang in das Fahrzeug, und der Maschinist setzte die Maschine in Bewegung; es war ein echtes Wunder, den Wagen ohne sichtbaren Motor so schnell dahinrollen zu sehen; Quinsonnas zog dieses Verkehrsmittel der Eisenbahn bei weitem vor.
Das Wetter war schön; das Gas-Cab fuhr durch die kaum erwachten Straßen, bog geschickt um die Ecken, kletterte mühelos die Steigungen hinauf und schoß zuweilen mit erstaunlicher Geschwindigkeit über die asphaltierten Straßen.
Nach zwanzig Minuten blieb es in der Rue du Caillou stehen. Quinsonnas bezahlte die Fahrt, und bald schwebten die beiden Freunde zu Onkel Huguenin empor.
Dieser öffnete seine Tür. Michel fiel seinem Onkel um den Hals und stellte Quinsonnas vor.
Monsieur Huguenin empfing den Pianisten herzlich, forderte seine Besucher auf, Platz zu nehmen, und bat sie zwanglos zu Tisch.
»Nun ja, lieber Onkel«, sagte Michel, »ich bin mit einer bestimmten Absicht gekommen.«
»Mit welcher, mein Kind?«
»Ich wollte Euch den ganzen Tag mit aufs Land nehmen.«
»Aufs Land«, rief der Onkel; »aber es gibt kein Land mehr, Michel!«
»Das stimmt«, warf Quinsonnas ein, »wo willst du denn das Land hernehmen?«
»Ich sehe, daß Monsieur Quinsonnas ganz meiner Ansicht ist«, entgegnete der Onkel.
»Voll und ganz, Monsieur Huguenin.«
»Weißt du, Michel«, fuhr der Onkel fort, »für mich ist das Land, noch vor den Bäumen, vor den Ebenen, vor den Bächen, vor den Wiesen, ganz besonders die reine Atmosphäre; nun gibt es aber in einem Umkreis von zehn Meilen rund um Paris keine reine Atmosphäre mehr! Wir haben London um seine Atmosphäre beneidet, und mit Hilfe von zehntausend Fabrikschloten, Werken für chemische Produkte, künstlichem Guano, Kohlenrauch, Giftgasen und Industriedünsten haben wir uns eine Luft geschaffen, die der im Vereinigten Königreich ebenbürtig ist; es ist also undenkbar, außer man geht sehr weit, zu weit für meine alten Beine, irgend etwas Reines einzuatmen! Wenn du mir Glauben schenkst, dann bleiben wir seelenruhig zu Hause, schließen sorgfältig unsere Fenster, und dann essen wir so gut wie nur irgend möglich.«
Alles geschah nach Onkel Huguenins Wunsch; man setzte sich an den Tisch; man speiste; man redete von diesem und jenem; Monsieur Huguenin beobachtete Quinsonnas, der sich beim Nachtisch nicht länger zurückhalten konnte, und sagte:
»Wahrhaftig, Monsieur Huguenin, Sie haben ein gütiges Gesicht, und in dieser Zeit der sinistren Physiognomien tut es wohl, Sie anzuschauen; erlauben Sie mir, Ihnen nochmals die Hand zu drücken.«
»Monsieur Quinsonnas, ich kenne Sie schon lange; dieser Junge hat oft von Ihnen gesprochen; ich wußte, daß Sie einer der unseren sind, und ich danke Michel für Ihren freundlichen Besuch; er hat gut daran getan, Sie mitzubringen.«
»Ah! Ah! Monsieur Huguenin, sagen Sie lieber, daß ich ihn mitbringe, dann haben Sie nämlich recht.«
»Was ist denn geschehen, Michel, daß man dich zu mir mitbringt?«
»Monsieur Huguenin«, fuhr Quinsonnas fort, »mitbringen ist nicht das richtige Wort, man müßte schon eher herschleppen sagen.«
»Oh!« meinte Michel, »Quinsonnas ist die Übertreibung in Person!«
»Also nun«, sagte der Onkel …
»Monsieur Huguenin«, sprach der Pianist weiter, »schauen Sie uns genau an.«
»Ich schaue Sie an, meine Herren.«
»Hör mal, Michel, dreh dich um, damit dein Onkel uns von allen Seiten begutachten kann.«
»Werdet ihr mir auch den Grund für diese Zurschaustellung nennen?«
»Monsieur Huguenin, finden Sie nicht, daß wir etwas von Leuten haben, die gerade gefeuert wurden?«
»Gefeuert?!«
»Genau! Aber gefeuert, wie schon lange nicht mehr gefeuert wird!«
»Wie! Ist euch ein Unglück zugestoßen?«
»Ein Glück!« meinte Michel.
»Kind«, sagte Quinsonnas und zuckte mit den Achseln. »Monsieur Huguenin, wir
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