Paris im 20. Jahrhundert
bringt zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Hektoliter Weizen hervor, und ein Hektoliter Weizen kann fünfundsiebzig Kilo Brot hergeben! Nahrung für ein halbes Jahr, bei einem Pfund pro Tag!«
»Ach! Sich ernähren! Sich ernähren«, rief Michel, »immer das gleiche Lied.«
»Ja! Mein Sohn, das Lied vom Brot, das oft mit einer traurigen Melodie gesungen wird.«
»Nun gut, Michel«, fragte Onkel Huguenin, »was willst du denn machen?«
»Wenn ich vollkommen frei wäre, lieber Onkel«, antwortete der junge Mann, »dann würde ich gern jene Definition vom Glück in die Praxis umsetzen, die ich irgendwo einmal gelesen habe und die vier Bedingungen enthält.«
»Und welche sind das, ohne allzu neugierig sein zu wollen?« fragte Quinsonnas.
»Ein Leben an der frischen Luft«, antwortete Michel, »die Liebe einer Frau, der Verzicht auf jeglichen Ehrgeiz und etwas schönes Neues, das man schafft.«
»Wenn das so ist«, rief der Pianist und lachte, »dann hat Michel ja bereits die Hälfte des Programms verwirklicht.«
»Wie das?« fragte Onkel Huguenin.
»Das Leben an der frischen Luft? Er wurde auf die Straße gesetzt!«
»Richtig«, meinte der Onkel.
»Die Liebe einer Frau …?«
»Reden wir nicht davon«, sagte Michel und wurde rot.
»Gut«, meinte Monsieur Huguenin mit spöttischer Miene.
»Was die beiden anderen Bedingungen angeht«, fuhr Quinsonnas fort, »so ist es schon schwieriger! Ich halte ihn für ehrgeizig genug, um nicht völlig auf jeglichen Ehrgeiz zu verzichten …«
»Aber etwas schönes Neues zu schaffen«, rief Michel, während er vor Begeisterung aufsprang.
»Der Kerl ist sogar dazu imstande«, entgegnete Quinsonnas.
»Armes Kind«, meinte der Onkel mit trauriger Stimme.
»Lieber Onkel …«
»Du weißt nichts vom Leben, und ein ganzes Leben lang muß man zu leben lernen, hat Seneca gesagt; ich beschwöre dich, gib dich nicht törichten Hoffnungen hin und nimm die Hindernisse ernst!«
»Tatsächlich«, fuhr der Pianist fort, »geht in dieser Welt nicht alles von alleine; man muß wie in der Mechanik die Einflüsse der Umgebung und die Reibungen einkalkulieren! Reibung mit den Freunden, den Feinden, den Aufdringlingen, den Rivalen! Einfluß der Frauen, der Familie, der Gesellschaft; ein guter Ingenieur muß alles berücksichtigen!«
»Monsieur Quinsonnas hat recht«, erwiderte Onkel Huguenin, »aber sprechen wir es deutlicher aus, Michel; bisher war dir in der Finanz kein Erfolg beschieden.«
»Deshalb wünsche ich ja auch, ein wenig meinen Neigungen und meinen Fähigkeiten zu folgen!«
»Deinen Fähigkeiten!« rief der Pianist. »Nun, in diesem Moment bietest du mir den traurigen Anblick eines Dichters, der Hungers stirbt und dennoch Hoffnungen nährt!«
»Dieser Teufelskerl Quinsonnas«, antwortete Michel, »hat eine spaßige Art, die Dinge zu sehen!«
»Ich spaße nicht, ich argumentiere! Du willst Künstler sein in einer Zeit, in der die Kunst gestorben ist!«
»Oho! Gestorben!«
»Gestorben! Beerdigt, mit Grabinschrift und Totenurne. Ein Beispiel: bist du Maler? Nun, die Malerei existiert nicht mehr; es gibt keine Bilder mehr, nicht einmal im Louvre; im vergangenen Jahrhundert wurden sie mit so viel Sachkenntnis restauriert, daß sie nun abblättern; die
Heilige Familie
von Raffael besteht nur noch aus einem Arm der Jungfrau und einem Auge des heiligen Johannes; das ist nicht gerade viel; die
Hochzeit von Kana
zeigt dir einen luftigen Bogen, der auf einer fliegenden Viola spielt; das genügt nicht! Tizian, Correggio, Giorgione, Leonardo, Murillo, Rubens, und wie sie alle heißen mögen, haben eine Hautkrankheit, die sie sich im Umgang mit ihren Ärzten geholt haben, und sie sterben daran; wir haben nur noch ungreifbare Schatten, unbestimmte Linien, zerfressene, schwarz gewordene und ineinandergeronnene Farben in prächtigen Rahmen! Man hat die Bilder verkommen lassen und die Maler mit ihnen; denn seit fünfzig Jahren hat es keine Ausstellung mehr gegeben. Und das ist ein Glück!«
»Ein Glück?« sagte Monsieur Huguenin.
»Ohne jeden Zweifel, denn bereits im letzten Jahrhundert hat der Realismus so sehr um sich gegriffen, daß man es nicht länger ertragen konnte! Es wird sogar erzählt, daß sich ein gewisser Courbet während einer der letzten Ausstellungen mit dem Gesicht zur Wand bei einer der gesündesten, aber unelegantesten Handlungen des Lebens selbst zur Schau stellte! Das hätte sogar die Vögel des Zeuxis in die Flucht geschlagen.«
»Abscheulich«, meinte der
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