Paris ist eine Messe wert
dreijähriges Kind in den Armen trug, das nur noch Haut und Knochen war. Doch auch der Frau, die ich verwundert betrachtete, lagen die dunklen Augen tief in den Höhlen des abgezehrten Gesichts, als sie meinem Blick begegneten, der vermutlich voller Mitleid für sie und ihre Bürde war, so daß sie wankend auf mich zutrat und mit erloschener Stimme um Brot bat für ihren Sohn. Ich staunte, daß eine so vornehme Dame bettelte, aber nicht demütig, sondern mit etwas wie verzweifelter Würde.
»Madame«, sagte ich, indem ich sie beim Arm faßte, weil sie schon fast strauchelte, »bitte, tretet ein, ich kann Eurem Kind Milch geben.«
»Monsieur«, sagte sie nur und sank mir wie ohnmächtig an die Brust, so daß ich Miroul und Pissebœuf zu Hilfe rufen mußte, um sie zu meinem Bett zu tragen; obwohl halb bewußtlos, hielt sie das Kind noch immer mit ihren mageren Armen umklammert. Doch als Pissebœuf mit Milchkrug und Becher kam, wurde der Körper des armen Kleinen von Zuckungen geschüttelt und verröchelte.
Ich dachte, daß die Mutter, die in dem Moment die Augen aufschlug, in Verzweiflung verfallen würde, aber sie hatte nicht einmal dazu mehr Kraft und betrachtete ihr Kind trockenen Auges, wie erstarrt und so, als wäre sie schon selbst halb tot. Und viel besser stand es auch nicht um sie. Man nahm ihr das Kind aus den Armen, ohne daß sie Widerstand leistete, und gehorsam trank sie einige Schlucke Milch, spie sie indes gleich wieder aus, und unter so heftigem Schluckauf, daß ich glaubte, sie gehe auch hinüber.
Ich hieß Héloïse, die herzugeeilt war, die Milch zur Hälfte mit Wasser zu mischen und Honig zuzugeben, und flößte der |308| Ärmsten die Lösung mit einem kleinen Löffel ein. Nun behielt sie das Getränk bei sich, ihre einzige Nahrung bis zur Nacht. Am Morgen löste Héloïse nach meiner Anweisung Brot in der mit Wasser versetzten Milch, was der Patientin wohlzutun schien, so daß sie ein wenig zu Bewußtsein kam. Sie verlangte nach ihrem Söhnchen, und als sie hörte, daß es am vergangenen Abend gestorben war, sagte sie nur: »Ach!«, doch ohne eine Träne zu vergießen, weil sie nach meinem Dafürhalten zu schwach war, ihr Leid zu empfinden.
Es war ein heißer August, und um die Beerdigung nicht aufzuschieben, schickte ich Pissebœuf, beim Schreiner unserer Straße einen kleinen Sarg zu bestellen, den der freilich wegen zu vieler Aufträge erst für den Abend versprach. Und ich geriet in Sorge, weil der nächtliche Innozentenfriedhof in so üblem Leumund stand. Die Mönche, von Miroul nach der Gebühr für das Begräbnis befragt, verlangten zwei Ecus, vor allem aber den Namen des kleinen Toten, und ob er getauft sei.
Als ich die Frau, bei der Héloïse die ganze Nacht gewacht hatte und auch jetzt wachte, nach ihrem Namen fragte, um ihr Kindchen würdig zu beerdigen, vergoß sie zum erstenmal Tränen, ein Beweis, daß sie zu Kräften kam und damit zur Empfindung ihres Leids.
»Ich heiße«, sprach sie mit tonloser Stimme, »Doña Clara Delfin de Lorca. Ich bin Witwe eines Hauptmanns vom Gefolge des Bernardino de Mendoza, der vor drei Wochen beim Angriff auf die Vorstädte fiel. Und weil wir seitdem von der spanischen Gesandtschaft als unnütze Esser betrachtet wurden, erhielt ich keinen Bissen Brot mehr für mein Kind und mich. Zuerst lebten wir noch von schmalen Vorräten, aber als Ihr, Monsieur, mir Hilfe gewährtet, hatten wir drei Tage nichts mehr gegessen.«
All das sagte sie ohne Bitterkeit, mit einer Art Starre, die mich verwunderte.
»Madame«, sagte ich, »jedermann hier hofft, daß die Belagerung auf die eine oder andere Weise bald enden wird. Bitte, betrachtet bis dahin mein Brot und mein Haus als das Eure.«
Worauf sie schwach dankte und die Augen schloß, für ein Gespräch noch immer zu erschöpft.
Die Mönche von Saints-Innocents, denen Miroul die erhaltenen Auskünfte überbrachte, zeigten sich allein durch den spanischen |309| Namen beruhigt, daß das Kind weder Heide noch Ketzer gewesen war und ihm die christliche Erde geöffnet werden konnte, ohne von seinen Gebeinen entweiht zu werden. So nahmen sie denn unsere zwei Ecus in Empfang und bezeichneten uns eine Stelle, wo ihr vereidigter Totengräber für dreißig Sous (wovon die Mönche ein Drittel einstrichen) eine kleine Grube ausheben würde. Jedoch müßten wir, nachdem der Sarg gebettet wäre, die Erde selbst darüberhäufen.
Auf dem Rückweg schaute ich in der Schreinerwerkstatt vorbei, wo sich Särge, fertig oder
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