Paris ist eine Messe wert
in Streifen geschnitten, so speist man die Armen.«
»Mein lieber L’Etoile«, sagte ich ungläubig, »das erfindet Ihr, aus Haß auf Kutten und Soutanen!«
»Keinesfalls! Es ist mir von zig Zeugen bestätigt worden. Auch von Lisette, die derlei kennenlernte, ehe sie in meinen Dienst trat.«
Aha! dachte ich, desto höher weiß sie das gute Brot beim lieben L’Etoile zu schätzen.
Am Sonntag, dem 12. August, weil niemand, nicht einmal L’Etoile wußte, wie es um die trügerischen Verhandlungen zwischen Mayenne und Navarra stand, die von den beiden bekannten Mittlern gedeichselt wurden, ging ich nach Notre-Dame, Pfarrer Boucher zu lauschen, in der Hoffnung, im fauligen Stroh seiner Predigt vielleicht ein paar Körner zu finden. Doch es war alles wie gehabt, Boucher, der Fettwanst, mit seinem puterroten Gesicht und den vorquellenden Augen, donnerte wie je mit beiden Fäusten auf die Kanzel zu seinen endlosen Beschimpfungen Navarras, daß das hohe Gewölbe der Kathedrale von seinem Gebrüll widerhallte. Aber vom Frieden war nur insoweit die Rede, als daß der stinkende Bock keinen wolle: das alte Lied.
Dafür erzählte er eine Geschichte, die ich zuerst nicht glauben konnte, die mir jedoch als wahr bestätigt wurde von der unglücklichen Kammerfrau, die sie erlebt und überlebt hatte.
»Am vergangenen Montag«, begann Boucher mit ernster Miene, und indem er die Stimme senkte, um die Aufmerksamkeit |302| zu steigern, »starb in Paris eine Dame, nach deren Tod man entdeckte, daß sie ihre eigenen Kinder gegessen hatte. Die zwei Kinder waren verhungert, sie ließ sie vor den Nachbarn in kleine Särge legen, doch sobald sie allein war, nahm sie sie heraus und ersetzte sie durch Beutel voll Sand, dann ließ sie die Särge nach Sitte und Brauch unserer heiligen katholischen, apostolischen und römischen Kirche beerdigen (hier bekreuzigte sich Boucher). Wieder daheim rief die Dame ihre Kammerfrau und sprach: ›Bitte, verrate mich nicht. Die Not, in der wir sind, zwang mich, die beiden Leichname aufzubewahren, damit sie uns ernähren. Nimm und zerteile sie. Dann salzen wir sie mit unserem restlichen Salz ein und essen jeden Tag ein Stück anstatt Brot.‹
Die Kammerfrau tat, wie ihr geheißen, doch auf Dauer war es zuviel für das Mutterherz. Die Frau starb, nicht vor Entkräftung, sondern vor Kummer und Scham. Und als die Erben ihre Küche nach Eßbarem durchsuchten, entdeckten sie fassungslos einen gepökelten Schenkel der Kindlein. Und die herbeigerufene Kammerfrau, dazu befragt, gestand das Ganze.
Ich kann verstehen«, fuhr Boucher auf einmal in süßlichem Ton fort, »daß es in Paris sehr unterschiedliche Weisen gibt, den unglückseligen Fall auszulegen. Die einen meinen, daß man so traurige Notfälle vermeiden würde, wenn man mit dem Béarnaiser verhandelte. Aber einer dieser Scheinheiligen – um nicht den Gerichtspräsidenten Brisson zu nennen –, der die Not der Pariser über alles stellt, erhielt von Herrn Bussy-Leclerc, dem Gouverneur der Bastille, die stolze Antwort: ›Not! Ihr sprecht von Not! Ja, alles wird jetzt mit dieser schönen Not zugedeckt! Aber ich sage Euch: Ich habe nur ein Kind. Doch ehe ich der Not weichen und mich dem Béarnaiser ergeben würde, äße ich es lieber auf.‹
Man wird mir entgegnen«, fuhr Boucher weiter fort, »daß es sich da um einen Mann handelt, dessen Herz und Eingeweide weniger empfindlich sind als die einer Mutter. Alsdann, hört eine andere Geschichte, die ich aus sicherer Quelle weiß: Eine gewisse wohlgeborene Dame besuchte Madame de Nemours (schöne Leserin, Sie können sich denken, wie ich bei diesem Namen im Mund des Schurken die Ohren spitzte), klagte ihr endlos die ›Not‹, in welcher Paris sich befinde (Boucher sprach das Wort Not verächtlich aus), und wenn man ihr nicht abhelfe, |303| würde es soweit kommen, daß die Mütter gezwungen wären, ihre Kinder zu töten und zu essen. Worauf Madame de Nemours erwiderte: ›Und selbst wenn Ihr zur Verteidigung der heiligen Religion genötigt wärt, Eure Kinder zu töten, was glaubt Ihr, was daran so Schlimmes ist? Woraus sind Kinder denn geschaffen, wenn nicht aus Kot und Auswurf! Wahrlich ein Grund, groß Aufhebens darum zu machen!‹«
Von Zorneswut übermannt, wäre ich ums Haar aufgesprungen und hätte diesem Erzschurken zugeschrien, er lüge, wenn Miroul mir nicht die Hand auf den Arm gelegt und mir zugeraunt hätte:
»Cave canem. Lupus ipse canem metuit«.
1 Womit er recht hatte, denn hätte ich
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