Pariser Bilder
entfernt. »Habe ich Sie ertappt, Herr Briefräger«, sprach ich zu ihm, »Sie streifen hier herum, um einen Blick auf sie zu werfen?« – »O nein, Monsieur, ich streife hier nur herum, weil sie heute ihren freien Tag hat, das weiß ich. Wenn sie da wäre, käme ich nicht. Ich ertrage ihren Anblick nicht, aber im Vorbeigehn betrachte ich die Teke und sage zu mir: Dies ist die Stelle, wo sie gestern war, und dies die Stelle, wo sie morgen sein wird.« – »Ach, mein lieber Herr Briefräger, Sie dürfen wohl sagen, daß es Sie erwischt hat.« – »Allerdings, aber Sie wissen doch, Monsieur, wenn ein Verliebter so sehr liebt, vergißt er, daß er leidet.«
Hochamts am Karsamstag in Notre-Dame
Seit acht Uhr, während des Hochamts am Karsamstagmorgen in Notre-Dame, war mir ein außergewöhnliches Paar aufgefallen, das sich unweit der Sakristei niedergelassen hatte, um dem endlosen Gottesdienst zu folgen; beide mochten über achtzig sein. Er, ein Koloß, hielt in der einen Hand (und was für einer Hand!) ein winziges Büchlein und in der andern einen Kerzenstumpf, dem es offensichtlich kaum gelang, die Buchstaben zu beleuchten, die mit bloßem Auge zu entziffern er sich abmühte. So kümmerlich auch sein Licht war, so reichte es doch hin, mir sein Gesicht zu erhellen: das Gesicht eines Satyrs, ja eines feisten Mephisto, von sämtlichen Lastern gezeichnet und entstellt, ohne daß dort das geringste Zeichen feinerer Lebensart oder auch nur eine Spur von Ironie zu entdecken gewesen wäre.
Da die Kanoniker von Paris in der Absolvierung der Psalmen jeden Schnelligkeitsrekord schlagen, fiel es unserem Laien schwer, mit ihnen Schritt zu halten; gehetzt, außer Atem, erst singend, dann rezitierend, ließ er es bald dabei bewenden, nur die Lippen zu bewegen, ehe er die göttlichen Worte mehr aufschlappte als kaute, die andern ihm immer im Galopp voraus, er keuchend hinterdrein, so daß er am Ende lediglich mit den Augen nachhinkte; sein Mund im Schlepptau ließ nur hie und da noch ein Wort fallen, das er im Fluge erhascht hatte.
Die gnädige Frau, nicht weit entfernt, wie am Mee-
resstrand auf ihrem Klappstuhl sitzend, der sie überall begleitet, hatte zusätzlich noch zwei weitere Stühle für sich allein belegt; auf dem einen, der ihr als Tisch diente, hatte sie ihren Krimskrams ausgebreitet; auf dem andern, aus dem sie ihr Pult gemacht hatte, lag offen der monumentale Quartband eines Breviers, neben dem eine Kerze in einen Halter gepflanzt war, wie man seinesgleichen höchstens noch in einer Provinzküche auf dem Kaminsims findet oder in den Spelunken der Impasse d’Oran. Eine Brille flach im Gesicht, ein Lorgnon rittlings auf der Nasenspitze, war man doch so kurzsichtig, obwohl die Buchstaben dem Format des Buches entsprachen, daß man, um sie lesen zu können, genötigt war, eine quadratische Lupe, so groß wie ein Kellerfenster, die Zeilen entlangzuführen. Immerhin, trotz der vertrackten Zurüstungen, war diese Eva, wie dies zuweilen der Fall zu sein pflegt, sehr viel flinker als ihr Adam, wenn es den Redefluß zu beschleunigen galt. Mit welcher Behendigkeit gelang es ihr immer wieder, den Sieger einzuholen, und erlag sie für einen Augenblick der Ablenkung durch das Pittoreske ihres Schattens, der sich vor ihren Füßen erstreckte, oder konnte sie es doch nicht lassen, von Zeit zu Zeit einen verächtlichen Seitenblick auf den Strand zu werfen, wo sie, in ihre Meßbücher vertief, so manchen Profanen erblickte, wie stolz war sie dann, wenn sie alsbald wieder die rechte Stelle erwischte!
So weit war ich mit meinen Beobachtungen, als ein junges Mädchen, das aus einem Beichtstuhl kam, herzutrat und mit Sorgfalt die marineblauen Schleierschleifen an dem Sonnenhut der Dame wieder richtete, auf ihren Schultern einen Fransenschal, der verrutscht war, zurechtzog und sie dabei mit »Hoheit« anredete.
Aber wer, sprach ich für mich, wer sind denn diese Mächte, diese Trone, diese Herrschafen? Schon rüstete die Geistlichkeit sich zur Prozession durch das Kirchenschiff, und obwohl die umständlichen Aufauten unsere beiden hinderten, sich ihr anzuschließen, verfolgten sie den Verlauf der Zeremonie doch bis zum letzten Amen.
Ein Maler
Auf seine Bitte hin habe ich einen Maler besucht, der im Stadtgürtel von Paris für sich allein in einem kleinen Haus wohnt, aus dem er eine Art Hospital oder Morgue gemacht hat (ihm selber gilt es als Museum), wo er kranke oder verstümmelte Gegenstände, seltsame Überbleibsel
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