Partials 1 – Aufbruch
Glück, die Liebe und … den Sinn des Lebens oder so.«
»Wessen Leben?«
»Was meinst du damit?«
»Jedes Leben hat einen anderen Sinn«, erklärte Nandita. »Manche
Menschen finden ihn leichter als andere. Das Wichtigste ist dabei aber immer …«
Sie wandte sich zu Kira um und wedelte lebhaft mit einem Korianderzweig. »Das
Wichtigste ist dabei aber, dass du auch dann, wenn du den Sinn deines Lebens
gefunden hast, nicht vergisst, dass es noch andere Möglichkeiten gibt.«
»Was?«
»Ganz egal, warum du hier bist, ganz egal, warum irgendjemand sonst
hier ist, du bist nicht willenlos dem Schicksal ausgeliefert. Du bist nicht
eingesperrt, du kannst dich selbst entscheiden, und das kann dir niemand
wegnehmen.«
»Na gut«, antwortete Kira. »Ich hatte aber nicht erwartet, dass sich
das Gespräch in diese Richtung entwickelt.«
»Das liegt daran, dass ich ebenfalls Entscheidungen treffen kann.«
Nandita hob den Korb wieder auf. Die Hälfte der Kräuter war noch nicht
sortiert. »Die bringe ich zu den Nachbarn. Armand ist krank. Geh ruhig hinauf
und wasch dich. Mein Haus soll nach Basilikum und nicht nach jugendlichen Achselhöhlen
riechen.«
»Schon erledigt.« Kira stieg nach oben. Dort war die Musik lauter,
es war das übliche Kreischen und Dröhnen, das Xochi immer hörte, wenn sie
allein war. Kira lächelte, dann schnüffelte sie an sich selbst, schnitt eine Grimasse
und trat unter die Dusche.
Einer der wenigen Vorteile, wenn der Weltuntergang nahte, war der
unendliche Vorrat an Kleidung. Einst hatten fast acht Millionen Menschen auf
Long Island gelebt, und es hatte entsprechend viele Einkaufszentren, Kaufhäuser
und Boutiquen gegeben, um sie mit Kleidung zu versorgen. Der Zusammenbruch
hatte die Bevölkerung auf einen winzigen Bruchteil davon reduziert und das
Wirtschaftssystem vernichtet. Jetzt lag die Kleidung einfach herum, und man
konnte sie mitnehmen. Kira wusste, wie schrecklich es im Grunde war, denn die
Überlebenden mussten sich mit harter Arbeit, Verzweiflung und Angst abfinden.
Wenigstens waren sie bei alledem gut gekleidet.
Viele Sachen waren zu schäbig, als dass man sie tragen konnte – verschimmelt oder von Motten zerfressen, in Wind und Wetter verblichen. Aber
eine Menge war noch in gutem Zustand. Das Einkaufen war einfach. Man musste nur ein leeres Geschäft betreten, etwas Passendes
heraussuchen und es ordentlich waschen, um das Ungeziefer und den Geruch
herauszubekommen. Die besten Jagdgründe waren Lagerräume und Lagerhäuser. Dort
war die Kleidung in Kisten verpackt und nicht der Witterung ausgesetzt. Kira
hatte mit ihren Freunden viele Wochenenden damit verbracht, in den
Einkaufszentren ein Twenty-Two , ein Threadless oder eine andere Boutique zu finden, auf die
bisher noch niemand gestoßen war. Nanditas Mädchen hatten ein ganzes Zimmer mit
allen möglichen Sachen gefüllt: mit weiten Hosen, engen Kleidern und allem
dazwischen. Kira suchte sich etwas aus, das die Beine zur Geltung brachte – nach drei Tagen in Lebensgefahr hatte sie sich das redlich verdient –, und ging
zu Xochi.
Xochi Kessler war kurz nach Madisons Auszug bei ihnen eingezogen.
Sie war gerade erst sechzehn und hatte es nicht erwarten können, vor Senatorin
Kessler zu fliehen. Sie hatte vier Solarpaneele mitgebracht – ihre Adoptivmutter
war reich, wenn sie auch sonst nicht viel taugte –, was ausgereicht hätte, um
die Beleuchtung, einen Elektroherd und sogar einen Toaster zu betreiben. Leider
jagte Xochi den ganzen Strom in die Musikanlage. Musik war ihr Leben. Kira
hatte Xochi vor einigen Jahren beim Einkaufen kennengelernt. Kira hatte Kleidung gesucht, Xochi digitale Abspielgeräte. Es
gab kleine, nur handtellergroße Tonträger aus Metall, Plastik und Glas, in
denen die früheren Besitzer Stunden über Stunden aller nur erdenklichen
Musikrichtungen gespeichert hatten. Xochi hatte fast hundert davon gesammelt.
Sie winkte, als Kira in der Tür erschien. »Ein Hoch auf Kira, die
Heldin des berühmten Bergungseinsatzes in Asharoken! Die Shorts stehen dir übrigens
super, Mädchen.«
Kira lächelte und winkte zurück. »Wenn man die richtigen Beine hat« – sie wippte auf einem Fuß –, »dann ist man auch verpflichtet, sie dem kleinen
Volk zu zeigen.«
»War das ein irischer Witz?« Xochi runzelte in gespieltem Ernst die
Stirn. »Das will ich schwer hoffen.« Senatorin Erin Kessler war eine stolze
Irin, und deshalb war Xochi nach der Adoption in einem betont irischen Heim
aufgewachsen.
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