Partials 1 – Aufbruch
es reinigen und sich
einrichten. Die Besitzer waren tot, Banken existierten sowieso nicht mehr, und
für jeden Einwohner gab es zwei, fünf oder sogar zehn Häuser, wenn er nur
wollte. Auf Long Island hatten Millionen Menschen gelebt. In der alten Welt
hatte jeder möglichst viele materielle Besitztümer gehortet. Nun gab es einen
materiellen Überfluss, den niemand zu nutzen wusste, und sonst fast gar nichts
mehr.
Kira bemerkte einen schwachen gelben Lichtschein. Sie hielt inne und
blinzelte. Das Licht kam eindeutig aus Marcus’ Haus. Warum war er so spät noch
wach? Sie ging weiter und stieg vorsichtig über die Spalten, wo die Baumwurzeln
den welligen Gehweg aufgerissen hatten. Auf der vorderen Wiese blieb sie stehen
und spähte in das Zimmer. Eine Kerze, ein Stuhl und Marcus, der im Sitzen
eingeschlafen war. Die Wände waren kahl, und die Löcher, wo früher einmal Fotos
aufgehängt worden waren, ließen sich noch erkennen. Die Bilder waren längst
abgenommen, eingelagert oder weggeworfen. Kira betrachtete Marcus eine Weile,
bis sie auf einmal bemerkte, dass er auch sie beobachtete. Er hatte den Kopf
gehoben und die Augen geöffnet.
Er saß ruhig da, blickte zu ihr heraus und wartete, ob sie sich
bewegte. Sie stand still und erwiderte den Blick.
Die Kerze flackerte.
Marcus stand auf, verschwand durch die Tür, und dann öffnete sich
die Vordertür. Kira rannte spontan die Treppe hinauf, umarmte ihn und schmiegte
das Gesicht an seine Brust. Er erwiderte die Umarmung und drückte sie an sich.
Sie schloss die Augen und nahm ihn mit allen Sinnen wahr: seine Kraft, den
Geruch, die ganze Ausstrahlung, die sie so gut kannte. Er war ein Teil ihres
Lebens, solange sie zurückdenken konnte, und realer als alles andere aus der
alten Welt. In jenes Leben war sie hineingeboren worden, aber dieses Leben – in
East Meadow, mit Marcus und sogar mit RM – war ihre
Gegenwart. Sie drückte ihn an sich, suchte sein Gesicht und fand es. In einem
langen, leidenschaftlichen und verzweifelten Kuss fanden sich ihre Lippen.
»Tut mir leid, dass ich nicht mitgekommen bin«, flüsterte Marcus.
»Ich habe es jeden Tag bereut, an dem du weg warst.«
»Du hättest sterben können.« Kira schüttelte den Kopf und küsste ihn
wieder.
»Aber ich hätte bei dir sein sollen«, bekräftigte er mit harter
Stimme. »Ich hätte da sein und dich beschützen müssen. Ich liebe dich, Kira.«
»Ich liebe dich auch«, antwortete sie leise. Eine kleine Stimme in
ihrem Hinterkopf sagte: Ich brauche diesen Schutz nicht.
Sie überhörte die Stimme und schob sie weg. In diesem Moment wollte
sie nichts als Marcus’ Umarmung spüren.
»Ihr habt einen Partial erwischt, oder?«
Kira hielt inne. Eigentlich wollte sie nicht darüber reden oder
nachdenken. Schließlich nickte sie. »Ja.«
»Es gibt eine Menge Gerüchte. Jeder weiß, dass die Abwehr etwas vom
westlichen Ende der Insel angeschleppt hat, aber niemand verrät, was es ist.
Deshalb fiel es mir nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen.«
Auf einmal verkrampfte sich Kira, denn sie erinnerte sich, unter
welch großer Anspannung die Stadt vor ihrem Aufbruch gestanden hatte. Wie nahe
sie alle dem Bürgerkrieg gewesen waren. »Glaubst du, dass es sich sonst noch
jemand zusammengereimt hat?«
»Schwerlich«, antwortete Marcus. »Man kommt nicht so leicht auf den
Gedanken, jemand könne einen Partial nach East Meadow mitbringen.«
»Aber der zweite, der fünfte oder der zwanzigste Gedanke könnte
zutreffen. Früher oder später kommt jemand darauf.« Plötzlich war ihr kalt. Sie
zog sich von Marcus zurück und rieb sich die Arme. Er legte ihr eine Hand auf
den Rücken und schob sie sanft ins Hausinnere.
»Es gibt noch vieles andere, worüber wir uns Sorgen machen müssen«,
sagte er ungewöhnlich ernst. »Während du fort warst, erfolgte ein großer Angriff
der Stimme . Sie haben die Zwinger überfallen und fast
alle ausgebildeten Hunde der Abwehr getötet oder verschleppt. Jetzt können wir
nicht …«
Mit rasendem Herzen fasste Kira Marcus am Arm und fiel ihm ins Wort.
»Die Zwinger? Hat dort nicht Saladin gearbeitet?«
»Der Wunderknabe.« Marcus nickte. »Der jüngste Mensch auf dem
Planeten. Sie haben ihn mitgenommen, als sie die Hunde verschleppten, und dazu
die Hälfte der Leute, mit denen er zusammengearbeitet hat. Es war auch in psychologischer
Hinsicht ein harter Schlag. Ohne die Hunde können wir die Stimme nicht mehr in der Wildnis verfolgen, aber ohne Saladin … es ist, als
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