Partitur des Todes
die Namen zu lesen, die auf den langen Tafeln entlang der Gefängnismauer verzeichnet waren. Es waren hundert Namen, die stellvertretend an all jene erinnern sollten, die man hier umgebracht hatte, weil sie aus der Wehrmacht desertiert waren, weil sie Flugblätter verteilt oder weil sie einen Juden versteckt hatten.
Beide Hände an den Gitterstäben, schaute eine junge Frau aus dem offenen Fenster ihrer Gefängniszelle zuMarthaler hinunter. Sie hörte laute Musik und nickte ihm zu. Vielleicht bewegte sie auch nur ihren Kopf im Takt der Musik. In der Nähe sah Marthaleram Zaun eines Vorgartens ein paar Kletterrosen blühen. Er ging hin, schaute sich kurz um, knipste eine der Blüten ab und legte sie vor die Tafeln. Dann stieg er auf sein Rad und fuhr weiter.
Er kamam Bornheimer Friedhof vorbei und schickte einen stummen Gruß an Katharina, die hier beerdigt lag und der er jetzt versprach, sie zu besuchen, sobald er Zeit fand. Er würde ihr einen Brief schreiben und ihn in den Blumenstrauß stecken, den er ihr einmal im Monat mitbrachte.
Als er die Tankstelle an der Kreuzung zur Comeniusstraße erreicht hatte, schaltete dieAmpel vor ihm auf Rot. Er überlegte kurz weiterzufahren, als sich aus der Gegenrichtung ein offenes Cabrio näherte, das nun ebenfalls hielt. In dem Wagen saßen zwei Männer, die lachten und sich im Reggaetakt bewegten. Dann beugten sie sich zueinander und gaben sich einen flüchtigen Kuss. Die Ampel sprang auf Grün, aber Marthaler blieb stehen. Er schaute weiter in Richtung des Cabrios, das jetzt an ihm vorüberfuhr. Marthaler erkannte den Mann auf dem Beifahrersitz. Es war Manfred Petersen.
Dann hörte er sein Mobiltelefon klingeln. Er zog es aus der Jackentasche und drückte den Empfangsknopf.
«Du glaubst nicht, was passiert ist», sagte Kerstin Henschel.
«Das könnte ich ebenfalls sagen», erwiderte er. «Gerade ist mir Manfred begegnet. Er ist nicht krank. Er ist so gesund wie du und ich.»
Kerstin Henschel schwieg einen Moment.Als sie wieder sprach, hatte sich der Ton ihrer Stimme verändert. «Das ist jetzt nicht wichtig, Robert. Lass uns später darüber sprechen. Es ist etwas passiert. Der City-Express hat Eva Helberger ausfindig gemacht. Du musst kommen.»
«Er hat wen ausfindig gemacht? Kerstin, hilf mir!»
«Eva Helberger, die Frau, die den Mann auf der Bank am Mainufer gesehen und uns schon am Donnerstag angerufen hat. Die Bekannte von Kai Döring, die plötzlich verschwunden war.»
«Oh Gott, ja. Die hatte ich fast vergessen…»
«Robert, komm einfach her. Und beeil dich bitte!» «Was für ein Scheiß-Beruf», sagte Marthaler, als er sein Büro im Weißen Haus betrat. «Wir bekommen ein Baby, und ich habe keine Zeit, Tereza anzurufen. Ich komme nicht einmal dazu, mich gebührend zu freuen.»
Kerstin Henschel stand vor ihm, sah ihn kurz an, dann wich sie seinem Blick aus. Sie ging an ihm vorbei und schloss von innen die Tür.
«Kerstin, was ist los?»
«Lass uns kurz reden. Wir müssen rasch über Manfred sprechen.»
Kerstin Henschel hatte ihre Stimme gesenkt. Sie war blass und wirkte bedrückt.
«Allerdings», erwiderte Marthaler. «Was er macht, ist in meinen Augen eine Sauerei. Wenn er Zeit braucht, okay. Wenn er nachdenken muss, in Ordnung.Aber er kann sich nicht krankmelden und dann mit seinem Geliebten durch die Gegend fahren. Damit bringt er nicht nur sich in Schwierigkeiten, damit brüskiert er auch uns… Übrigens sah er nicht gerade glücklich aus. Er hat gelacht, aber er wirkte auf mich vollkommen überdreht.»
«Robert… es gibt keine Krankmeldung.»
«Natürlich gibt es eine Krankmeldung. Sie war in der Post. Elvira hat sie…»
«Robert, hör zu. Ich wollte mit Manfred reden. Ich habe versucht, ihn zu erreichen.Aber ich habe keineAhnung, wo er sich herumtreibt. Ich habe eine Freundin, die Ärztin ist. Ich habe sie gebeten, eine Krankmeldung auf seinen Namen auszustellen.»
Marthaler sah seine Kollegin ungläubig an. «Du hast was getan? Du hast…»
«Es war idiotisch, ich weiß.Aber du hattest mir vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben, ihn zu erwischen.Als ich ihn nirgends auftreiben konnte, wusste ich mir nicht mehr zu helfen. Ich hatteAngst um Manfred. Ich wollte ihn decken.»
Marthaler schüttelte den Kopf. Er ruderte mit den Armen. Einerseits war er kurz davor, Kerstin Henschel anzubrüllen.Andererseits hatte er Respekt vor ihr und dem, was sie getan hatte. Dass sie bereit gewesen war, ihre Stellung zu riskieren, um einem Freund zu
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