Partitur des Todes
sagt, wir sollen die Bärbel fragen.»
«Die Bärbel?»
«Kennst du nicht die Bärbel? Rainers Zuckerschnütchen. Sie sitzt in der Küche und spinnt Flachs.»
«Oh Gott, wo sind wir nur hingeraten? Gibt es hier nur Verrückte? Was hat er sonst noch gesagt?»
«Was soll er sonst noch gesagt haben?»
«Kerstin! Ihr habt geflüstert, du hast gekichert.Also hat er noch mehr gesagt.»
«Ja.Aber das möchte ich nicht wiederholen. Ich fürchte, du würdest sonst erröten.»
«Hast du gesehen, was er für einen Spitzbauch hat?», fragte Marthaler.
«Ja», sagte Kerstin Henschel, «ich habe alles gesehen.» Sie durchquerten den sorgfältig gepflegten Kräutergarten, dann standen sie vor einer Tür auf der Rückseite des Hauses.Als er anklopfte, merkte Marthaler, dass die Tür nur angelehnt war.
«Herein», sagte eine Frauenstimme. «Herein, wenn’s kein Reporter ist.»
Vor ihnen stand eine mollige Mittvierzigerin in Jeans und Bluse. Sie war barfuß, ihr Haar hatte sie hochgebunden. Offensichtlich war sie gerade dabei, den Abwasch zu erledigen. Sie wischte ihre nassen Hände flüchtig am Hosenboden ab, dann reichte sie den Neuankömmlingen ihren rechten Unterarm.
«Sind Sie die Bärbel?», fragte Kerstin Henschel. «Sie spinnen ja gar keinen Flachs.»
Die Frau sah sie fragend an. «Ach so, der Rainer. Ich hoffe, er hat Sie nicht erschreckt. Er kommt aus Königs Wusterhausen. Er ist Dozent an der dortigen Fachhochschule und bildet Finanzbeamte aus. Einmal im Jahr kommt er für zwei Wochen her. Kaum hat erseine Tasche aufs Zimmer gebracht, schon wirft er alle Klamotten von sich, rennt auf die Wiese und macht seine Übungen.»
«Haben Sie nur solche Gäste?»
Die Frau lachte. «Nein, die meisten kommen her, weil sie die Ruhe und unser Essen mögen. Im Moment sind allerdings alle ausgeflogen. Mein Mann macht eine Exkursion auf den Stoppelsberg. Wenn Sie ein bisschen früher gekommen wären…»
«Ist Eva Helberger ebenfalls auf dieser Exkursion?», fragte Marthaler.
Der Blick der Frau bekam etwas Lauerndes. «Warum fragen Sie nach Eva? Sind Sie etwa doch von der Zeitung?»
«Nein. Wir sind Kriminalpolizisten.»
«Eva ist nicht mehr da. Sie ist gestern Abend abgereist.»
«Verdammt», entfuhr es Marthaler. «Hat sie gesagt, wo sie hinwollte?»
«Die Journalisten haben ihr angeboten, sie mit nach Frankfurt zu nehmen. Sie hat das Angebot angenommen.»
«Sind Sie ganz sicher? Wir haben versucht, sie in ihrer Wohnung zu erreichen. Sie scheint nicht zu Hause zu sein.Auch ans Telefon gehtniemand.»
Die Frau machte eine bedauernde Geste. «KeineAhnung. Bei Eva weiß man nie. Sie ist… wie soll ich es nennen? Sie ist ein wenig flatterhaft.»
«Sie kennen sie gut?»
«Ja. Wir sind schon lange befreundet. Sie kommt immer her, wenn es ihr schlecht geht. Und es geht ihr leider viel zu oft schlecht.»
«Erinnern Sie sich an die Namen der Presseleute?»
«Es waren zwei. Ein Fotograf, der nichts gesagt hat. Und ein Reporter, der unentwegt geredet hat, ohne darauf zu achten, ob ihm überhaupt jemand zuhört. Ein unangenehmer Mensch.»
«Arne Grüter?»
«Ja, so hieß er.»
«Wissen Sie, ob Grüter sich bei Frau Helberger gemeldet hat? Oder war es umgekehrt?»
«Sie war es, die in der Redaktion angerufen hat. Ich habe versucht, es ihr auszureden, aber sie hat gesagt, dass sie das Geld braucht.»
Marthaler zog eine Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tisch. «Sollte sich Eva Helberger nochmal bei Ihnen melden, rufen Sie mich bitte umgehend an. Es ist sehr wichtig.»
Als siedas Haus durch die Vordertür verließen, saß der nackte Rainer auf der Treppe. Er hatte eine kleine Katze imArm und fuhr ihr mit einem Grasbüschelum die Schnauze.
«Was machen Sie da?», fragte Marthaler.
«Sie hat Verdauungsprobleme.»
Marthaler hatte Mühe, nicht laut loszulachen. «Sie hat was?»
«Verdauungsprobleme. Sie muss Gras fressen.»
«Ja. Oder es fehlt ihr die innere Harmonie.»
Marthaler und Henschel drückten sich an dem Mann vorbei.Als sie schon fast ihren Wagen erreicht hatten, rief er ihnen nach: «Herr Wachtmeister, Herr Wachtmeister!»
Marthaler drehte sich um.
«Regel Nummer zehn: Suche die Ruhe in der Bewegung und die Bewegung in der Ruhe!»
«Ja», sagte Marthaler leise, «ich werde mein Bestes geben.» Zurück nahmen sie den Weg durch die Rhön. Kurz hinter Fulda merkte Kerstin, dass sie sich verfahren hatte.
«Mist, ich hätte auf die A 66 abbiegen müssen. Jetzt sind wir zu weit gefahren.»
«Dann lass
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