Partitur des Todes
Ortsnamen, die auf den Hinweisschildern zu lesen waren: Wehrda, Wetzlos, Stärklos, Kruspis.
Sie folgten der Beschreibung, die ihnen Delius gegeben hatte. Schließlich bogen sie von der kleinen Landstraße ab in einen Feldweg.
«Vielleicht hätten wir lieber einen Geländewagen nehmen sollen», sagte Kerstin Henschel.
Vor einem halbzerfallenen Holzgatter mussten sie halten. Marthaler stieg aus und suchte nach einer Klingel.Als er keine fand, öffnete er das Tor und winkte seiner Kollegin zu, ihm zu folgen.
Zu Fuß ging er auf das Haus zu, dessen Fachwerk man durch die dichten Blätter einiger Bäume leuchten sah. Schließlich merkte er, dass Kerstin Henschel den Motor abgestellt hatte und nun ebenfalls den Wagen verließ. Er wartete, bis sie bei ihm war.
«Mein Gott», sagte sie, «hier möchte man ja nicht tot überm Zaun hängen.»
«Delius scheint es zu gefallen.»
«Meinst du, hier gibt es schon Strom und fließendes Wasser?»
«Jedenfalls guten Käse.»
Dann standen sie vor dem Haus. «Das ist es», sagte Kerstin. «Wir sind richtig.»
Die Tür war verschlossen. Von den Bewohnern war keiner zu sehen. Marthaler ging die fünf Stufen der Steintreppe hinauf und klopfte. Niemand gab Antwort.Außer dem Rauschen des kleinen Baches und dem Wind in den Blättern war nichts zu hören.
Sie gingen um das Haus herum und sahen den nackten Mann. Er stand auf der Wiese, hatte seine dünnen Beine leicht angewinkelt und dieArme von sich gestreckt. Seine langen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Marthaler hob die Brauen und warf seiner Kollegin einen Blick zu. Sie grinste.
«Was macht der da?»
«Tai Chi, nehme ich an», sagte sie.
«Und warum hat er nichts an?»
«Vielleicht eine Allergie.»
Marthaler sah sie verdutzt an.
«Ein Scherz, Robert. Ich weiß nicht, warum er nackt ist. Du kannst ihn ja fragen.Aber warum flüstern wir eigentlich?»
«Wer weiß, was passiert, wenn er erschrickt.»
Marthaler ging auf den Mann zu. Fünf Meter vor ihm blieb er stehen und räusperte sich. Langsam drehte der Mann ihm den Kopf zu. Seine Körperhaltung behielt er bei. Er zeigte keinerleiAnzeichen von Scham.Marthaler senkte den Blick.
«RegelNummer eins: Halte den Kopf aufrecht, um deinen Geist zu entfalten», sagte der Nackte.
Hilfesuchend schaute sich Marthaler nach Kerstin Henschel um. Sie zuckte mit den Achseln.
«Regel Nummer zwei: Lockere die Ellenbogen, damit die Schultern sinken.»
«Entschuldigen Sie, wenn wir ungelegen kommen», sagte Marthaler, «wir möchten mit Eva Helberger sprechen. Können Sie uns sagen, wo sie zu finden ist?»
«Deine Bewegungen sollen fließen. Verbinde den Geist mit dem Körper», säuselte der nackte Mann.
Marthaler schüttelte resigniert den Kopf. Er drehte sich um und ging zurück zu Kerstin Henschel. «Ich weiß nicht, was er von mir will. Er steht da, als habe erein Problem mit seiner Verdauung, aber von mir verlangt er, dass ich mich locker mache. Versuch du es, vielleicht spricht er mit dir.»
«Aber du bleibst in der Nähe», sagte sie. «Entsichere deine Pistole. Und gib mir Feuerschutz, wenn es sein muss.»
Kaum sah er Kerstin Henschel auf sich zukommen, gab der Mann seine Kampfhaltung auf. Er lächelte sie an und streckte ihr die rechte Hand entgegen. «Ich bin der Rainer», sagte er. «Und was haben wir hier für ein hübsches Pferdeschwänzchen?»
Sie ließ seine Hand in der Luft verhungern. «Selber Pferdeschwänzchen», sagte sie. «Mein Name ist Kerstin Henschel. Kriminalpolizei. Wir ermitteln in einemMordfall. Zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis.»
«Ich zeig dir alles, mein Schatz, sogar meinen Ausweis. Dann musst du allerdings mit auf mein Zimmer kommen.»
Jetzt war es Marthaler, der grinste.
«Sagen Sie mir bitte, wo Eva Helberger ist.»
Der Mann machte eine lockende Bewegung mit dem Zeigefinger: «Gib mir mal dein Öhrchen. Dann werd ich dir was flüstern.»
Kerstin Henschel verdrehte die Augen. Dann neigte sie ihren Kopf und brachte das rechte Ohr in die Nähe seines Mundes, achtete allerdings sorgfältig darauf, ihn nicht zu berühren.
Marthaler schaute den beiden aus der Ferne zu. Er sah seine Kollegin nicken. Sie kicherte kurz und legte gleich darauf die flache Hand vor den Mund. Dann reichte sie dem nackten Rainer zumAbschied ihre Rechte.
«Und? Seid ihr euch einig geworden?»
«Was soll das heißen?»
«Hat er dir gesagt, wo wir sie finden?»
«Er kennt keine Eva Helberger. Er ist erst vor einer halben Stunde angekommen. Er
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