Partitur des Todes
uns eine Pause machen», sagte Marthaler. «Ich bin hungrig.»
Auf der Raststätte Uttrichshausen machten sie halt. Sie bestellten jeder eine Kleinigkeit zu essen und tranken eine Tasse Kaffee.Anschließend fuhren sie in dem kleinen Ort unter der hohenAutobahnbrücke hindurch, um über einen Wirtschaftsweg wieder die Gegenfahrbahn zu erreichen.
Den größten Teil der Strecke saßen sie schweigend nebeneinander.Als sie an Gelnhausen vorbeikamen, sahen sie rechts die hohen Türme der Marienkirche.
«Was ist mit dir, Robert?», fragte nun ihrerseits Kerstin Henschel. «Denkst du über Eva Helberger nach? Ärgerst du dich, dass wir sie verpasst haben?»
«Nein, das ist es nicht», sagte er. «So ist es doch immer. Man hat eine Spur, dann läuft man in die Irre und vergeudet Zeit. Wir werden sie schon finden. Dann wird sich zeigen, ob sie uns etwas zu sagen hat, was wir noch nicht wissen.»
«Sondern? Was ist es dann?»
«Ich denke über das Motiv nach. Mir ist es noch immer ein Rätsel, warum diese Morde geschehen sind. Und warum Valerie Rochard entführt wurde.»
«Aber wenn es doch so ist, wiedu sagst, dass diese Notenhandschrift so viel Geld wert ist… Ich meine, es werden alte Frauen umgebracht, weil irgendwer die fünfzig Euro haben will, die sie in der Handtasche mit sich tragen.»
«Trotzdem. Trotzdem geht mir im Kopf herum, was dieser Mann gesagt hat, mit dem ich heute Morgen gesprochen habe, dieser Werner Heubach. Er hält es für ausgeschlossen, dass irgendwer, der an den Aufführungsrechten interessiert ist, eine solche Tat begeht. Der Mann ist ein Wirrkopf, trotzdem hat er in diesem Punkt recht. Wer auf eine solche Weise an die Noten käme, könnte sie niemals auswerten. Es wäre wie ein Schuldgeständnis. Es ergibt keinen Sinn.»
«Also?»
«Also muss es noch etwas anderes geben. Etwas, das wir noch immer nicht kennen.» Sie passierten das Ortsschild von Frankfurt und bogen hinter dem Hessen-Center auf die Borsigallee ab, als Marthalers Mobiltelefon klingelte.
«Ich bin’s, die Bärbel», sagte die Frau.
«Was ist? Hat sich Eva Helberger bei Ihnen gemeldet?»
«Nein, aber mir ist etwas anderes eingefallen. Heute Morgen hat hier in aller Frühe ein Mann angerufen. Er hat dasselbe gefragt wie Sie. Er wollte wissen, ob Eva noch hier ist.»
«Und?»
«Ich habe ihm dieselbeAuskunft gegeben. Dass sie gestern mit den Reportern zurück nach Frankfurt gefahren ist.»
«Hat der Mann seinen Namen genannt?»
«Nein. Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich ihn auch wieder vergessen. Es war noch sehr früh. Ich bin durch das Telefon aufgewacht. Wir haben gestern bis weit nach Mitternacht mit den Gästen zusammengesessen. Ich war noch völlig verschlafen.»
«Um wie viel Uhr war das?», fragte Marthaler. «Wenigstens ungefähr.»
«Ich weiß nicht, vielleicht um halb sieben oder sieben. Meinen Sie, ich habe einen Fehler gemacht?»
«Nein», sagte Marthaler, «den Fehler haben wir gemacht.» Dann beendete er das Gespräch. Er merkte, wie seine Kopfhaut zu kribbeln begann. «Verdammter Mist», sagte er. «Kerstin, gib Gas! Wir fahren nach Sachsenhausen.An den Schaumainkai! So schnell es geht.»
Dreißig
Marthaler schaute auf seine Uhr. Es war sechs Minuten vor halb drei, Sonntagnachmittag, der 5.Juni2005.
Kerstin Henschel hielt den Wagen am Rand der Fahrbahn an und schaltete die Warnblinkanlage ein. Beide sprangen gleichzeitig auf die Straße.Als er den Bürgersteig erreicht hatte, hörte Marthaler hinter sich das leise Klacken derZentralverriegelung. Er stürmte auf das Haus zu und suchte das Klingelschild ab.Als er den Namen Eva Helberger nicht aufAnhieb fand, drückte er auf alle Knöpfe gleichzeitig. Kurz darauf war aus der Gegensprechanlage ein Knarzen zu hörenund dann eine leise Stimme. Bevorer sich melden konnte, wurde die Tür mit einem Summen geöffnet.
«Eva Helberger, wo wohnt sie?», schrie Marthaler einen alten Mann an, der im Erdgeschoss im Treppenhaus stand.
Ohne zu antworten, zog sich derAlte erschrocken in seine Wohnung zurück.
Auch im zweiten und dritten Stock stand ihr Name an keiner Tür.
«Weiter», sagte Kerstin Henschel. «Es gibt noch eine Dachwohnung.»
Sie hatte Marthaler überholt. Zwei Sekunden später stand er schnaufend hinter ihr. Sie klingelte. Dann schlug sie mehrmals mit der flachen Hand gegen die Tür.
«Eva Helberger, sind Sie da? Öffnen Sie bitte sofort die Tür!»
Im Innern der Wohnung blieb es ruhig.
«Wir gehen rein!», stieß Marthaler hervor,
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