Partitur des Todes
morgen nicht noch einmal versuchte.
Sie nahm einen letzten Zug, inhalierte tief, genoss das kleine Schwindelgefühl und tauchte den Joint kurz ins Badewasser, wo die Glut zischend erlosch. Dann warf sie die achte Kippe in den Aschenbecher.
Als siesich angezogen hatte und vor dem Spiegel stand,um sich eine dicke Linie Kajal um dieAugen zu ziehen, hielt sie kurz inne und hörte den Lieblingszeilen in ihrem Lieblingsstück zu. «Please, please, please, if you’re down on your knees, carry on, carry on», sang J.J.Cale,und Eva Helberger sangleise mit. Sie wartete, bisdas Lied zu Ende war. Dann schaltete sie die Musikanlage aus, steckte ihr Portemonnaie und den Schlüsselbund ein und lauschte für einen Moment an der noch verschlossenen Wohnungstür, um sicherzugehen, dass sie im Treppenflur niemandem begegnen würde. Sie wohnte seit zwanzig Jahren in dem Haus, das direkt an der Ecke lag, wo Schaumainkai und Schweizer Straße aufeinandertrafen. Der Hausbesitzer, ein Anwalt, der im zweiten Stock seine Kanzlei betrieb,wäre sie schon lange gerne losgeworden, um das Dachgeschoss zu sanieren und hinterher für den doppelten Preis weiterzuvermieten. Er hatte ihr eine Ersatzwohnung in einemNeubauviertel angeboten, er hatte ihr Geld geben wollen, und schließlich hatte er ihr sogar mit einer Zwangsräumung gedroht, aber sie dachte nicht daran, freiwillig das Feld zu räumen. Die Wohnung war preiswert, und sie lag so günstig, dass sie alle Supermärkte, Ärzte und die U-Bahn in weniger als zehn Minuten erreichte. Und der Mann, der ihr das beste Marihuana der Stadt verkaufte, wohnte gleich um die Ecke.
Eva Helberger stieg die vier Stockwerke hinab, verließ das Haus und lief am Museumsufer mainaufwärts. Ein paar hundert Meter weiter bog sie nach rechts in die Schulstraße. Vor dem dritten Haus auf der linken Seite blieb sie stehen. Sie drückte auf den Klingelknopf der Erdgeschosswohnung. Dreimal kurz, einmal lang. Kurz darauf sah sie, wie sich hinter einem der Fenster die Gardine bewegte.
Als sie in den Hausflur kam, war die Wohnungstür bereits geöffnet. Ein schlanker, knapp fünfzigjähriger Mann mit langen Haaren streckte den Kopf heraus.
«Ich brauch was», sagte sie.
«Ich brauch was, ich brauch was», blaffte er sie an. «Sollich dir vielleicht ein Megaphon leihen? Komm gefälligst rein.»
Sie drückte sich an ihm vorbei in die Diele und wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. «Ich brauch was», sagtesie noch einmal.
«Natürlich brauchst du was, sonst wärst du wohl kaum hier, oder?Also… wie viel?»
«Zwanzig Gramm!»
Der Mann ließ sie stehen und verschwand in einem der Zimmer. Eine halbe Minute später kam er zurück und hielt ihr ein Plastiktütchen hin. «Macht hundertsechzig», sagte er.
«Wieso hundertsechzig?»
«Zwanzig mal acht sind hundertsechzig.»
«Vorigen Monat waren es noch sieben Euro.»
«Aber jetzt ist Juni, und das Gramm kostet acht. Was ist nun?»
«Können wir’s auch anders regeln?», fragte Eva Helberger.
Der Langhaarige schaute sie an. Dann begann er zu grinsen.
«Du hast extra noch geduscht, stimmt’s? Hab ich’s doch gleich gerochen. Nee, du, ich hab im Moment keinen Bock auf dich. Ich bin versorgt, verstehst du. Meine Kleine liegt nebenan und pennt. Willst du sie sehen? Also, entscheide dich: Entweder du zahlst oder du verschwindest wieder.»
Eva Helberger nickte. Sie zog ihr Portemonnaie hervor, zählte das Geld ab und gab es ihm. Zwei Sekunden später hörte sie bereits, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Als siewieder am Schaumainkaiangekommen war, überquerte sie die Straße und stieg die Treppen zum Mainufer hinab. Sie öffnetedie kleine Plastiktüte und sog den Duft der getrockneten Hanfblüten ein. Sie lächelte. Wenigstens schien der Stoff etwas zu taugen. Sie überlegte, ob sie sich gleich hier auf die Wiese setzen und eine weitere Marihuana-Zigarette rauchen sollte, entschied dann aber zu warten, bis sie wieder zu Hause war.
Sie ging zu dem am Ufer liegenden Boot, auf dem ein jungerAnatolier sein kleines Restaurant betrieb. Sultans Imbiss stand auf demSchild, das an derAußenwand angebracht war. Unter Deck setzte sie sich an einen der fünf Tische, die um diese Tageszeit allesamt noch frei waren.
«Eigentlich ist noch zu», sagte Erkan Önal, der seinen Kopf aus der Kombüse streckte. Dann zwinkerte er ihr zu. «Aber Mikrowelle geht. Was soll’s denn sein?»
Eva Helberger bestellte eine türkische Pizza und eine Cola light.
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