Partitur des Todes
stand am Fenster, lehnte ihre Stirn an die kalte Scheibe und versuchte nachzudenken. Vielleicht wartete der Mann auf jemanden. Vielleicht war er mit einerFrau verabredet, und diese Frau hatte sich verspätet. Oder er war ein Tourist, der den ganzen Tag durch die Straßen gelaufen war, sich nun auf diese Bank ans Flussufer gesetzt hatte, um auszuruhen und um dieAussicht auf die Stadt und die letzten Sonnenstrahlen zu genießen.Aber Touristen sind neugierig, dachte Eva Helberger. Sie schauen sich um. Sie haben Fotoapparate dabei. Sie telefonieren. Sie tragen Taschen oder Rucksäcke mit sich herum. Und sie sind meistens in Gruppen unterwegs. Dieser Mann aber tut nichts. Er sitzt einfach nur da und schaut immer in dieselbe Richtung.
Egal, dachte sie, wer auch immer er sein mag, es geht mich nichts an.
Dann wandte sie sich um, ging zurück ins Zimmer, setzte sich an den Tisch, öffnete den kleinen Holzkasten, zog eines von den Zigarettenpapierchen hervor, verteilte ein wenig Tabak und die letzte Portion Marihuana darauf und drehte sich eine Zigarette.
Sie warf einen Blick auf den Aschenbecher und zählte die Kippen, die sich im Laufe des Tages dort angesammelt hatten. Es waren sieben. Sieben von den kurzen Sticks hatte sie seit dem späten Vormittag bereits geraucht. Sie legte das Feuerzeug, das sie bereits in der Hand gehalten hatte, wieder beiseite, stand auf und ging ins Badezimmer. Sie drehte das warme Wasser auf, zog sich aus, schaute kurz inden Spiegel und lächeltesich zu.
Eva Helberger überlegte, wann sie zuletzt mit einem Mann geschlafen hatte. Es war sieben, vielleicht auch schon acht Monate her. Sie hatte in einem Café in der Nähe des Doms gesessen, wo sie manchmal amAnfang des Monats hinging, um einen Cappuccino zu trinken. Der Mann war direkt auf sie zugekommen und hatte gefragt, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Er war Vertreter fürArzneimittel und kam aus Koblenz. Dass er keinen Ehering trug, hatte nichts zu bedeuten. Männer legten ihre Ringe immer ab, wenn sie jemanden kennenlernen wollten. Sie war mit allem einverstanden gewesen, waser vorschlug: als er sie zum Essen einlud, als er anschließend in eine Bar zum Tanzen gehen wollte und als er sie bat, noch mit in sein Hotelzimmer zu kommen.Als sie sich zwei Stunden später wieder angezogen hatte, wollte er wissen, ob er ihr ein bisschen Geld geben solle. Es war das erste Mal gewesen, dass man ihr diese Frage stellte, aber sie hatte genickt. Dann hatte er ihr seine Nummer aufgeschrieben. Eva Helberger hatte den Zettel eine Weile lang hin- und hergeräumt, schließlich hatte sie ihn weggeworfen. Den Namen des Mannes hatte sie vergessen.Abersie erinnerte sich an seine Abschiedsworte. «Du riechst gut», hatte er gesagt und ihr einen Kuss auf den Hals gegeben.
«Du meinst mein Parfüm?», hatte sie gefragt.
«Nein, ich meine deine Haut.»
Jetzt ging sie ins Wohnzimmer, schaltete den C ein und drehte die Lautstärke auf.Als kurz darauf die Stimme J.J.Cales erklang, begann sie mitzusingen. Seit über zwanzig Jahren hörte sie fast nie etwas anderes. Nur manchmal, wenn sie sehr guter Laune war, legte sie eine Live-Aufnahme mit den Stücken Bob Marleys auf und rückte den Tisch ein wenig zur Seite, um Platz zum Tanzen zu haben. Dann dachte sie zurück andie nächtlichen Feste, die sie damals in Göttingen gefeiert hatten, als sie für ein paar Wochen zu den Hausbesetzern in die alteAugenklinik gezogen war. Es gab keine Zeit inihrem Leben, an die sie sich lieber erinnerte.
Sie steckte die Marihuana-Zigarette an, nahm den Aschenbecher mit ins Badezimmer, stellte ihn auf den Rand der Wanne und stieg ins Wasser. Eva Helberger schloss die Augen. Sie überlegte, welcher Tag heute war. Donnerstag? Oder doch erst Mittwoch? Nein, es war bereits Donnerstag. Donnerstag, der 2.Juni. Es war ihr Hochzeitstag. Oder musste man sagen: Es würde ihr Hochzeitstag sein, wenn sie nicht längst geschieden wären? Wahrscheinlich würde er amAbend wieder anrufen, Wolfgang, derA13-Lehrer, der Gute, der Langweiler, ihr größter Irrtum. Er würde wissen wollen, wie es ihr gehe und ob sie denn halbwegs zurechtkomme, finanziell; würde dann noch ein wenig mit ihrplaudern, um unweigerlich auf die Frage zuzusteuern, ob es momentan einen Mann in ihrem Leben gebe, oder, wenn sie verneinte, ob sie nicht doch einmal gemeinsam ausgehen wollten.
Jedenfalls war sie froh, rechtzeitig daran gedacht zu haben. So würde sie das Telefon einfach läuten lassen und darauf hoffen, dass er es
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