Partitur des Todes
Marthaler nahm an, dass es sich um die Besitzer des Ladens handelte, um die Eltern von Kim Na-Bi.
Ihnen folgte eine weitere Frau. Es war Valerie Rochard. Sie konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.
Für den Bruchteil einer Sekunde war der Kopf eines Mannes zu sehen, der sich zwischen den Dreien verbarg. Stipe Pavelic ließ sich von seinen Geiseln abschirmen. Er trieb sie langsam vor sich her. Er benutzte sie als lebende Schutzschilde.
Barbara Pavelic riss sich los. Dann lief sie auf ihren Ex-Mann zu und begann zu schreien: «Stipe, nein, pass auf!»
Er wirbelte herum und zielte mit seiner Pistole in Richtung der Menge. Für einen Moment war er ungeschützt.
Man hörte den ersten Schuss.
Kurz darauf einen zweiten und einen dritten.
Stipe Pavelic zuckte getroffen zusammen.
Dann war es, als sei ein Damm gebrochen. Die Abfolge der Schüsse war so dicht, dass man die einzelnen nicht mehr unterscheiden konnte.
Immer mehr Kugeln schlugen in Pavelics Körper ein. Für einen Moment sah es aus, als würde er tanzen.
Dann knickten seine Beine ein. Er kniete auf dem Boden und hatte die Hand mit der Pistole in die Luft gereckt.
Immer noch wurde sein Oberkörper von den Projektilen hin- und hergeschüttelt.
Schließlich fiel Pavelic vornüber und blieb mit dem Gesicht auf dem Pflaster liegen.
Es herrschte vollkommene Stille.
Das Ganze hatte weniger als eine Minute gedauert. Marthaler war wie erstarrt stehen geblieben. Er sah, dass sich alle drei Geiseln in Sicherheit hatten bringen können.
Stipe Pavelics Leichnam lag blutend auf dem Boden.
«So eine Scheiße», sagte Marthaler, «so eine verdammte Scheiße.»
Dann wandte er sich ab.
Dreizehn
In den folgenden Tagen hatte sich Marthaler zumeist in seinemBüro verkrochen. Er fühlte sich leer und erschöpft. Er hatte das Bedürfnis, alleine zu sein. Wenn ihnjemand ansprach, reagierte er gereizt. Er schrieb seine Berichte und versuchte, sich durch Routinearbeiten abzulenken. Elvira bemühte sich, alle zusätzlichen Belastungen von ihm fernzuhalten.
Immer wieder ging er im Kopf die Ereignisse der vergangenen Woche durch. So verwirrend ihm alles während der Ermittlungen vorgekommen war, so einfachstellte es sich jetzt dar. Bis auf wenige Punkte war der Fall geklärt. Da sowohl Niehoff als auch Pavelic tot waren, gab es ein paar Fragen, auf die sie wohlkeine Antwort mehr erhalten würden.
Die Desert Eagle Mark VII, mit der die Morde auf dem Restaurantboot begangen worden waren, wurde nicht gefunden. Es war anzunehmen, dass Pavelic die Waffe sofort nach der Tat hatte verschwinden lassen. Oliver Frantisek war mit einer Wehrmachtspistole aus dem Zweiten Weltkrieg getötet worden, diewahrscheinlich aus Niehoffs Besitz stammte.
Nachdem Niehoffs Identität geklärt war, fiel es den Ermittlern nicht schwer, die Nachkriegskarriere des Mediziners zurückzuverfolgen. In den letzten Apriltagen des Jahres 1945 war es Niehoff gelungen, hinter die Linien der Roten Armee zu gelangen und sich in den Westen Deutschlands durchzuschlagen. Er hatte als Knecht auf einem Bauernhof in der Nähe von Lüneburg gearbeitet und war dann weitergezogen nach Ulm. Seine Frau ließ ihn für tot erklären und heiratete bald darauf einen entfernten Verwandten namens Heinrich Schmidt, der niemand anderes war als Niehoff selbst. Bald darauf siedelte das Paar nach Bad Nauheim über, wo Dr.Heinrich Schmidt in einer Privatklinik arbeitete, deren Leitung er schließlich übernahm.Als er durch dieAussage des Zeugen Brandstätter imAuschwitz-Prozess seine Entdeckung befürchten musste, verließen er und seine Frau Deutschland und gingen für einige Jahre nachArgentinien.Als Niehoffs Frau schließlich starb und er dasAngebot bekam, eines der Häuser in Wiesental zu kaufen, kehrte er endgültig zurück. Es stellte sich heraus, dass es in seiner Umgebung immer Leute gegeben hatte, die von seiner wahren Identität wussten, aber keinen Grund sahen, dies den Behörden zu melden. Bis zu seinem Tod hatte er immer wieder an Mediziner-Kongressen teilgenommen. In den letzten zehn Jahren hatte eran einem Verfahren geforscht, das sich Haploidisierung nannte. Eine Technik,bei der eine entkernte Eizelle mit den Erbinformationen einer Körperzelle bestückt werden sollte, umauf diese Weise unfruchtbaren Paaren zu einem Kind zu verhelfen. Dass dieses Verfahren von allen ernst zu nehmenden Wissenschaftlern bereits als Irrweg ad acta gelegt worden war, hatte Niehoff nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollen. Er
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