Partitur des Todes
Henschel hatte gerade Marthalers Büro verlassen, als Elvira den Kopf zur Tür hereinstreckte.
«Charlotte hat schon dreimal aus dem Präsidium angerufen. Sie fragt, wo du bleibst. Sie wollen mit der Pressekonferenz beginnen… Und ich will endlich nach Hause und Geschenke auspacken!»
Marthaler schaute auf die Uhr und bekam einen Schrecken. Es war bereits Viertel nach sechs. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er hatte Charlotte von Wangenheim versprochen,spätestens um 17.45Uhrim Präsidium zu sein, umdie nächsten Schritte zu besprechen und eine Erklärung für die Journalisten vorzubereiten.
«Nein,das geht nicht. Sag ihr, dass ich hier nicht weg kann. Sie müssen ohne mich auskommen. Ich werde mich morgen bei ihr melden. Vielleicht auch heuteAbend noch.»
Seine Sekretärin verdrehte die Augen. «Kannst du ihr das nicht selbst sagen? Sie ist sowieso schon sauer, dass du nicht pünktlich warst.»
Marthaler sah sie flehend an: «Elvira, dieses eine Gespräch noch, ja? Dann kannst du Feierabend machen.» Er wartete, bis seine Sekretärin die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann wählte er die Nummer seiner Wohnung. Tereza meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
«Robert?», fragte sie, als dürfe es niemand anderes sein. Ihre Stimme klang müde, fast ein wenig bang.
«Ja», sagte er. «Ich bin’s.»
«Schön.»
«Wie geht es dir?»
Sie zögerte mit ihrerAntwort. Ermerkte, wie er nervös wurde. Das war es, was er am Telefonieren hasste, dass man gezwungen war, unentwegt zu reden, dass man keine Pausen machen durfte. Dass jede Unterbrechung zu Missverständnissen führte.
«Tereza, wie geht es dir?», fragte er noch einmal.
«Danke», sagte sie schließlich.
«Danke, gut? Oder danke, schlecht?»
«Ich freue mich, deine Stimme zu hören.»
«Was ist mit dir?», fragte er. «Du klingst so… anders.»
«Ja.»
Er versuchte zu verstehen, was ihr «Ja» zu bedeuten hatte. Wollte sie fragen: «Ist das wahr? Klinge ich wirklich anders?» Oder wollte sie sagen: «Ja, ich klinge anders, weil etwas anders ist»?
«Leider weiß ich nicht, wann ich nach Hause komme. Wir haben gleich noch eine Besprechung. Du hast vielleicht gehört, was passiert ist…»
«Ja, habe ich mir gedacht.Alle haben gehört davon. Es ist fürchterbar.»
«Willst du mir sagen, warum du heute Morgen geweint hast?»
Wieder schwieg sie eine Weile. «Lass uns reden. Nicht jetzt. Irgendwann, wenn du wirkliche Zeit hast.»
«Tereza!»
«Ja?»
«Liebst du mich noch?»
«…»
«Tereza? Bist du noch da?»
«Ja. Lass uns reden. Ich bin müde.»
Dann legte sie auf. Als Marthaler den Konferenzraum betrat, hielt Kai Döring den City-Express in die Höhe. Es war eine vierseitige Sonderausgabe, die am Nachmittag erschienen und überall in der Stadt verkauft worden war. In riesigen roten Buchstaben verkündete das Titelblatt: «Türken-Amok in Frankfurt– Fünf Unschuldige abgeschlachtet.»
Marthaler winkte ab: «Verschon uns mit diesem Mist», sagte er. «Wir haben Wichtigeres zu tun».
«Es ist mal wieder ein Bild von dir drin», sagte Döring.
«Es istimmer ein Bild von mir drin. Und es ist nie sehr vorteilhaft.Also bitte, packdieses Drecksblatt wieder ein oder wirfes am besten gleich dorthin, wo es hingehört.»
Döring zögerte. «Aber du weißt, was diese Schlagzeile bedeutet. Sie legen die Vermutung nahe, dass Erkan Önal der Täter war. Dasser die fünf Leute auf seinem Boot erschossen und dann versucht hat, sich selbst das Leben zu nehmen.»
«Aber das ist kompletter Unsinn. Önal ist aus einiger Entfernung von hinten in den Oberkörper geschossen worden. Er ist eindeutig ein Opfer. Was auch immer er sonst mit der Sache zu tun hat, man wollte ihn umbringen.»
«Vielleicht wussten das die Leute vomCity-Express noch nicht.»
«Ja», sagte Marthaler, «oder sie wollten es nicht wissen.»
«Jedenfalls kam eben die Nachricht, dass auf eine türkische Fleischerei im Bahnhofsviertel ein Brandanschlag verübt wurde. Und imRiederwald sind drei Mädchen mit Kopftüchern von betrunkenen Fußballfans angegriffen worden.Alle drei mussten sich in ärztliche Behandlung begeben. Es handelte sich zwar um Iranerinnen, aber das war den Tätern vermutlich egal.»
«Verdammter Mist. Wieso verbietet man dieses Hetzblatt nicht endlich?», sagte Marthaler.
«Oder wir müssen eine bessere Pressepolitik machen», sagte Sven Liebmann.
Marthaler schaute seinen Kollegen an. «Was soll das heißen, Sven? Willst du damit sagen, dass wir schuld
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