Partitur des Todes
lassen, dass er die Tunten hasse wie nichts sonst, und so weiter… Na ja, es waren die normalen Bullensprüche, die wir alle kennen, die ich von ihmaber nicht erwartet hatte. Ich erteilte ihm eine ziemlich heftige Lektion in Sachen Toleranz, und damit war derAbend gelaufen…»
«Kerstin, bitte…», ermahnte sie Marthaler.
«Warte. Hab noch ein wenig Geduld. Ich bin gleich so weit… Gut, wir beschlossen wohl beide, den Vorfall zu vergessen; also ging alles weiter wie bisher: Kino, Konzerte, Kochen. Bis vor ein paar Wochen – bis das passierte, was ich vorhin erwähnt habe. Manfred wurde zunehmend fahriger, wirkte wiebekokst und machte im Dienst immer mehr Fehler. Er entzog sich mir, ohne zu sagen, warum. Letzte Wochehab ich ihn mir vorgeknöpft. Ich wollte wissen, was mit ihm los ist.»
Kerstin Henschels Wangen waren gerötet, ihre Zöpfe zitterten. Marthaler merkte, dass sie Schwierigkeiten hatte zu reden.
«Also?», fragte er.
«Er sagte, er habe jemanden kennengelernt.»
«Damit musstest du rechnen.»
«Ja, natürlich.Aber er sagte, er habe einen Mann kennengelernt.»
Jetzt war es Marthaler, der schluckte. «Du meinst, er, der gerade noch so geschimpft hatte…»
«Ja. Ich hätte gleich hellhörig werden sollen. SeineAbwehr war zu heftig gewesen. Wer so gegen die Schwulen wütet, hat am Ende oft doch was für sie übrig, will sich aber nicht dabei erwischen lassen. Das Ganze war eigentlich ziemlich durchsichtig. Das sah er natürlich auch selbst. Er ist überrascht worden von seinen Neigungen.»
«Aber kann das denn sein», fragte Marthaler, «dass jemand in Petersens Alter erst erkennt, dass er homosexuell ist?»
«Sieht ganz so aus», sagte Kerstin Henschel. «Jedenfalls gab er mir zu verstehen, dass er seit einiger Zeit in der schwulen Subkultur verkehre und dass er seine ersten Erfahrungen gesammelt habe, die durchaus nicht unangenehm seien.»
«Trotzdem verstehe ich nicht, dass er deshalb einfach seinen Job hinwirft.»
«Tut er ja auch nicht wirklich. Er hofft ja, dass er eine Gnadenfrist bekommt.Aber er ist vollkommen durch den Wind. Er hat einen Mann kennengelernt mit ziemlich viel Geld. Und wie es aussieht, hat sich Manfred ernsthaft verliebt. Jedenfalls glaubt er das.Anscheinend ist er bereit, alles auf eine Karte zu setzen. Ein wenig kann ich ihn sogar verstehen.»
Marthaler sah sie fragend an.
«Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn mir jetzt der Märchenprinz begegnen würde. Wenn er zu mir sagen würde: Schatz, ich hab Geld, mach dir keine Sorgen, ich hol dich da raus. Raus aus dieser Bullenscheiße. Mit all der Gewalt auf den Schulhöfen. Mit den einsamen Rentnern, die sterben und dann wochenlang in ihren Wohnungen liegen, ohne dass es jemand merkt. Mit den toten Junkies auf den Bahnhofstoiletten. Mit den Babyleichen in irgendwelchen Mülltonnen oder Kühltruhen. Und mit fünf Mordopfern auf einem Boot am Mainufer.»
«Kerstin, das ist nicht dein Ernst. Du würdest nicht den Dienst quittieren…»
«Ich weiß es nicht. In letzter Zeit gibt es immer häufiger Momente, in denen ich Lust habe, nochmal was anderes zu machen.Aber es geht jetzt nicht um mich. Es geht um Manfred. Ich glaube, er hat Angst. Vor seinen Eltern, vor dir, vor mir, vor Sven und Kai, vor dem ganzen Gerede. Er meint, sein Glück gefunden zu haben, und er will nicht, dass es irgendwer in Frage stellt. Vor allem hat er wohlAngst vor sich selbst.»
«Und was sollen wir jetzt tun? Ich kann diesen Brief nicht einfach auf sich beruhen lassen. Wir können nicht warten, bis er sich bequemt, hier wieder aufzutauchen.»
Kerstin Henschel überlegte. «Das Beste wäre, er würde sich wenigstens erst mal krankschreiben lassen. Dann hätte er Zeit gewonnen.»
«Aber um ihm das vorzuschlagen, müssten wir ihn erreichen.»
«Gib mir einen Tag, Robert. Ich versuche, ihn irgendwo zu erwischen. Vielleicht wissen seine Eltern, wo er ist – obwohl ich das eher bezweifle.»
«Entschuldige, Kerstin, wir sind keine Sozialstation. Deine Arbeitskraft wird hier gebraucht. Nicht nur, dass Manfred uns bei unseren Ermittlungen fehlt, jetzt willst du dich auch noch als sein Kindermädchen betätigen. Dafür haben wir keine Zeit.»
«Nur einen Tag, Robert, bitte. Das sind wir Manfred schuldig.»
Kerstin Henschel war jetzt aufgestanden und zur Tür gegangen.
«Vierundzwanzig Stunden», sagte Marthaler, «keine Minute länger. Wir sehen uns gleich im Besprechungsraum. Trommel die anderen bitte zusammen.»
Vierzehn
Kerstin
Weitere Kostenlose Bücher