Partitur des Todes
Dann las sie ein zweites und drittes Mal.
«Kannst du mir sagen, was das zu bedeuten hat?», fragte Marthaler.
Sie schwieg eine Weile. Sie setzte an, etwas zu sagen, brach aber wieder ab.
«Kerstin, bitte. Wenn du etwas weißt, sag es. Niemand kann einfach seinem Dienst fernbleiben und nachträglich um Beurlaubung bitten. Nach Lage der Dinge muss ich Petersen rausschmeißen.»
«Ich weiß nicht, was geschehen ist», sagte sie schließlich, «aber ich ahne es.»
«Dann sag mir, was du ahnst.»
«Aber versprich mir, dass du nichts von dem, was du jetzt erfährst, gegen ihn verwendest.»
«Das kann ich dir nicht versprechen», erwiderte Marthaler, «aber du weißt, dass ich Petersen immer wohlgesonnen war. Schließlich war ich es, der darauf gedrängt hat, dass er in unsere Abteilung kommt.»
«Manfred hat sich in den letzten Wochen sehr verändert. Er war gutgelaunt, aber gleichzeitig aufgekratzt und nervös. Oft war er müde und unkonzentriert; es kam mir vor, als würde ihn die Arbeit nicht mehr interessieren. Zweimal ist er sogar am Schreibtisch eingeschlafen. Es war ziemlich offensichtlich, dass er sich nachts herumgetrieben hat. Wir haben uns kaum noch gesehen. JedesMal, wenn ich vorgeschlagen habe, etwas gemeinsam zu unternehmen, hatte er eine andereAusrede.»
«Kerstin, bitte, komm zur Sache», ermahnte Marthaler seine Kollegin.
«Nein, Robert. Entweder du nimmst dir jetzt die Zeit und hörst zu, oder du erfährst nichts von mir. Es ist auch für mich nicht ganz einfach, über all das zu reden.»
«Also gut. Ich verspreche es. Erzähl weiter!»
«Du weißt, dass wir für eine Weile zusammen waren. Ich hatte damals nicht gerade sonnige Zeiten hinter mir. Manfred und ich haben uns sehr gemocht.Anfangs lief es auch ganz gut.Aber irgendwann hat er aufgehört, mit mir zu schlafen.»
«Weil er nicht mehr wollte?»
«Doch, er wollte. Schon, weil erAngst hatte, dass sonst unsere Beziehung kaputtgeht.Aber er konnte nicht mehr.»
«Er wurde impotent?»
Kerstin lachte. «Jedenfalls bei mir. Und andere Beziehungen hatte er nicht, da bin ich mir ziemlich sicher. Gleichzeitig war er ungeheuer eifersüchtig. Er belauerte mich und wollte mir nicht nur den Umgang mit anderen Männern, sondern auch mit meinen Freundinnen verbieten. Er wollte mich für sich haben. Schließlich hat er mich so bedrängt, dass ich die Notbremse gezogen habe. Wir haben uns getrennt. Das heißt: Ich habe Schluss gemacht.»
«Und danach habt ihr euch ständig angegiftet. Das haben hier alle mitbekommen.»
«Ja, das blieb nicht aus. Ich hab den Kontakt zu ihm erstmal auf das Nötigste beschränkt. Ich wollteAbstand gewinnen. Natürlich hab ich ab und zu einen Mann kennengelernt, aber ohne dass sich was Festes daraus entwickelt hätte. Ich behielt es für mich, und damit war alles in Ordnung. Bei ihm aber lief gar nichts. Er bemühte sich auch nicht darum.»
«Vielleicht hat er sich noch immer Hoffnungen auf dich gemacht», sagte Marthaler und schob sich die letzte Gabel seiner Joghurttorte in den Mund.
«Nein,das glaube ich nicht», erwiderte Kerstin Henschel. «Er schien sogar erleichtert zu sein, dass es aus war zwischen uns. Langsam entspannte sich die Lage. Wir begannen, uns auch außerhalb des Dienstes wieder zu treffen. Wir verabredeten, über zwei Dinge nicht zu reden: über Liebe und Sex. Das war die Bedingung unserer Freundschaft. Und so hat es funktioniert. Wir sind zusammen essen gegangen, waren im Kino und im Konzert, und manchmal haben wir sogar nebeneinander im selben Bett geschlafen, ohne dass einer von uns Anstalten gemacht hätte, den anderen zu berühren. Es war die perfekte platonische Freundschaft – ohne Streit, ohne Missverständnisse, und die meiste Zeit sogar ohne Missstimmungen.»
«Hört sich fast an wie: zu schön, um wahr zu sein», sagte Marthaler.
«Warte… Es gab eineAusnahme, einen richtigen Krach: EinesAbends kamen wiraus dem Eldorado und wollten noch was trinken. Wir hatten uns Wim Wenders’ ‹Buena Vista Social Club› angeschaut. Wir hatten den Film beide schon vorher gesehen, uns beiden hatte er gefallen. Es konnte nichts schiefgehen; alles war wunderbar. Weil die meisten Kneipen voll waren, schlug ich das Central in der Elefantengasse vor, das er nicht kannte. Wir setzten uns an die Bar, aber als er merkte, dass dort viele Schwule verkehrten, rastete er aus: Wie ich ihn in einen solchen Schuppen mitschleppen könne, dass er keine Lust habe, sich von irgendwelchen Schwuchteln angrabschen zu
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