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Pas de deux

Pas de deux

Titel: Pas de deux Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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Es war sehr dick, randvoll mit ihrer kleinen, engen Schrift, und es wußte bestimmt eine Menge Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte, aber was mich antrieb, war weniger Neugier als das Verlangen, sie bei mir zu haben. Ich setzte mich aufs Bett, ohne meine Schuhe auszuziehen – ihr wäre die Luft weggeblieben –, nachdem ich mich für die Sonaten von Skrjabin entschieden hatte (eine alte Aufnahme, aber Sofronitzkis Quartensprünge, vor allem in der achten, machten alles wett). An der Decke schwebte eine Rauchschicht von mindestens vierzig Zentimetern Dicke, und ich sah merkwürdige und rätselhafte Dinge. Was mir bei dem Gedanken, ihr Tagebuch aufzubrechen, mißfiel, war das Gefühl, daß ich ihr Erscheinen erzwang, daß ich eine erbärmliche Macht dazu ausnutzte, sie wieder an meine Seite zu rufen. Immerhin war das ein fünfundachtziger Mouton-Rothschild, den ich gern mit ihr geleert hätte. Wir hatten es zwar vergessen, aber eigentlich habe ich ihn für ihre Rückkehr gekauft, was einer gewissen Pikanterie nicht entbehrte. Ich packte das Telefon. Ich konnte an Georges, Oli oder eine meiner Töchter geraten, in dem Fall hätte ich aufgelegt. Aber ich wußte, sie würde es sein, unweigerlich.
    »Ich hab dein Tagebuch auf dem Schoß …« sagte ich zu ihr.
    »Tu das nicht …« antwortete sie.
    »Na schön …« seufzte ich.
     
    Der nächste Tag war ein Sonntag. Oli kam frühmorgens vorbei, und wir fuhren zusammen zu meiner Mutter, um ihr bei der Vorbereitung ihres Neujahrsfestes zu helfen. Es ging im wesentlichen darum, rund fünfzig Stühle anzuordnen und das Klavier in eine Ecke zu schieben, solange sie und Ramona sich schönmachten.
    Während wir die Stühle aus dem Schuppen in das Atelier am hinteren Ende des Gartens trugen, fragte mich Oli, ob ich am Abend zuvor angerufen hätte. Ich sagte ja, warum?, und er fing an zu grinsen und erklärte, er hätte darauf schwören können, denn Edith sei den Rest des Abends ganz durcheinander gewesen, und wer außer mir habe schon eine solche Wirkung auf sie?
    »Du täuschst dich, Oli. Das lag an ihrem verflixten Tagebuch. Ich habe sie angerufen, weil ich es zufällig aufgetrieben habe und bereit war, es zu öffnen.«
    Er blieb abrupt stehen. Es war schön, das Licht war zart und spirituell und vergnügte sich ringsum, als wären wir noch zwanzig und hätten irgendeine köstliche Sache in Aussicht. Leider war das nicht der Fall: Wir waren mehr als doppelt so alt, Oli war Witwer und ich auch nicht viel besser dran.
    »Gottogott! Und? Hast du es getan?!« würgte er hervor.
    Im Grunde waren wir nach all den Jahren die gleichen geblieben. Die Bestürzung, mit der er mich anstarrte, schien sich dreißig Jahre zuvor in sein Gesicht gegraben zu haben. Ediths Tagebuch hatte uns stets finstere Gefühle eingeflößt: den Wunsch, es in die Finger zu bekommen, und die Angst, eine Tat zu begehen, mit der wir den Blitzstrahl des Himmels auf uns zögen. Inzwischen waren wir Männer, und es handelte sich um die Hirngespinste eines jungen Mädchens, aber Olis Gesicht sprach Bände. Für beide von uns war diese verdammte Reliquie immer noch wie Dynamit.
    »Nein, sie hat mich davon abgebracht«, erklärte ich ihm lächelnd.
    Er wirkte enttäuscht und zugleich beruhigt. Ich schätze, mir wäre es an seiner Stelle nicht anders ergangen. Wir witzelten über die entsetzlichen Dinge, die es sicher enthielt, während wir die Stühle aufstellten und das Atelier einrichteten. Dabei wurde mir klar, daß die unverblümte, derbe Neugier, die einst der einzige Grund für das Interesse war, das wir ihrem Tagebuch entgegenbrachten, inzwischen mit einer wahren Zärtlichkeit für alles, was es beinhaltete, durchsetzt war. Klargeworden war mir das daran, wie wir beide gelacht hatten, wie fröhlich es uns gemacht hatte.
    So fröhlich, daß meine Mutter, als sie mich sah, glaubte, es gebe Neuigkeiten, aber ich küßte sie nur und sagte ihr, sie sehe großartig aus. Ramona flüsterte mir ins Ohr, meine Aura gehe ins Perlgrau über, ich dürfte mich auf keinen Fall gehenlassen. Ich erklärte ihr, ich hätte noch einige Reserven.
    Wahrscheinlich wollte ich mir das im Laufe des Nachmittags beweisen, als ich Oli erklärte, ich wolle ihn zurückfahren, er könne ja erzählen, sein Wagen sei defekt.
    »Henri-John … Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.«
    »Mag sein. Aber stell dir vor, ich habe keine andere.«
    Wir hatten am Seine-Ufer zu Mittag gegessen. Danach waren wir ein paar Schritte

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