Pas de deux
belastete sich nicht mehr mit menschlichen Empfindungen.
Wir aßen bei meiner Mutter zu Abend. Nach dem Essen blieben wir noch ein wenig, denn Ramona und sie standen noch ganz unter dem überwältigenden Eindruck des Tages und waren schwatzhaft gestimmt. Sie waren beide gleich hinreißend. Die geringste Feier oder der unbedeutendste Empfang verjüngte sie. Wir hatten früher so viele solcher Empfänge erlebt, daß sie sich sofort in ihrem Element fühlten und wie verklärt waren. Sie hatten es nicht eilig, sich auf ihre Zimmer zurückzuziehen oder sich ihrer Aufmachung zu entledigen.
Als meine Mutter und ich draußen im Garten auf der Hollywoodschaukel saßen und auf unseren Tee warteten, nutzte ich die Gelegenheit, um mit ihr über Georges’ Brief zu sprechen.
»Soll ich ihn dir zeigen?« fragte sie.
»Nein, nicht nötig. Ich hatte nur Angst, daß er dir damit auf die Nerven gegangen ist.«
»Ach was!« beruhigte sie mich und faßte nach meiner Hand. »Ich habe nicht einmal daran gedacht, dir davon zu erzählen. Er ist so merkwürdig. Weißt du, ich habe mir nicht die Mühe gegeben, alles verstehen zu wollen, was er geschrieben hat, seine Gedanken sind dermaßen verworren. Wußtest du, daß er vorhat, ein großes Haus in der Bretagne zu mieten, und daß er möchte, daß wir alle nachkommen, sobald die Dinge in Paris schlecht laufen. Angeblich werden sich gewisse Prophezeiungen bald erfüllen …«
»Wieso? Gefällt es den Russen in der Bretagne nicht?« Sie streifte mit verzerrtem Gesicht ihre Schuhe ab und winkelte die Beine auf der Schaukel an.
»Was willst du machen, er ist nun mal so, und daran werden wir nichts mehr ändern. Wir haben so vieles mit ihm gemeinsam erlebt. Wir haben zusammen die schönsten Augenblicke gehabt und die schlimmsten Hindernisse überwunden. Erinnere dich doch, was für ein Mann er war. Oh, er war nicht vollkommen, nein, aber welch wunderbarer Gefährte war er für mich, für uns alle. Weißt du, wenn das Ballett heute so ist, wie es ist, dann haben wir das ihm zu verdanken, weil er dafür gekämpft hat und weil er daran glaubte und weil wir alles waren, was für ihn zählte. Du kannst dir ja denken, daß es nicht immer einfach war, Arbeit für uns zu finden. Wenn es schlecht lief, konnte man ihn nächtelang an seinem Schreibtisch sitzen sehen, umgeben von Rechnungen und Briefen, die er unseren Gläubigern schrieb, verzweifelt darum bemüht, uns aus diesem Tal herauszuführen … Und jedesmal hat er eine Lösung gefunden, jedesmal hat er uns mit den Sorgen und den Scherereien verschont, die er hatte, denn er war überzeugt, daß das sein Problem war und daß nur er allein sie bewältigen konnte. Henri-John, er hat uns damals im wahrsten Sinne des Wortes auf seinen Schultern getragen, ich weiß nicht, was ohne ihn aus uns geworden wäre. Ihm habe ich es zu verdanken, daß ich mein Leben lang tanzen konnte, bis zu einem Alter, in dem man seinen einstigen Fähigkeiten fürchterlich nachtrauert, doch davon verspüre ich nichts. Was könnte er heute schon tun, damit ich all das vergesse? Sicher, er ist ein wenig verrückt, aber er war wunderbar. Verlange von einer alten Frau nicht, daß sie all ihre Gedanken ausgräbt. Dazu habe ich nämlich im Grunde weder Lust noch Kraft.«
»Amen«, sagte ich und hob ihre Hand an meine Lippen.
1956, zwei Jahre nach Madeleines Tod, nahm man uns endgültig von der Schule. Statt dessen präsentierten sie uns eine gewisse Alice Parker, eine ehemalige Lehrerin englischer Abstammung und Hobbydichterin, die Georges als Hauslehrerin engagiert hatte. Zu diesem Zweck stellte er ihr ein kleines Atelier zur Verfügung, das an das Haus angrenzte und für das wir keine Verwendung hatten.
Sie war eine fast schon häßliche Frau mit einem langen Hals und einem kräftigen Hinterteil. Sie gab uns die Hand und bestellte uns für den nächsten Tag zu sich. Dabei entdeckten wir, daß sie eine sehr hübsche Stimme hatte, was immer noch besser war als nichts.
Bislang hatten sich Georges und meine Mutter kaum um unsere schulischen Erfolge geschert. Im Gegenteil, sie hatten alles versucht, um uns vor den, wie sie es nannten, »perversen Auswirkungen« des staatlichen Schulwesens zu bewahren. Georges war eine Art rotes Tuch für die Direktoren sämtlicher Schulen, die wir besucht hatten. Sie wollten ihn also kommen lassen, um den Grund unseres häufigen Fehlens zu erfahren? Er kam, gespickt mit Attesten, die ihm Spaak bereitwillig ausstellte und denen zufolge wir
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