Pas de deux
würde deinen Wünschen und deinem Privatleben mit dem gleichen ehrfürchtigen Respekt begegnen wie ein armer Sünder der Jungfrau Maria, mal ehrlich, glaubst du, dieser Kerl hätte regungslos zugeguckt, wie man dich vertrimmt?«
»Du hast mir aber aufgelauert, nicht wahr?!«
»Herr im Himmel, nein, ich hab dir nicht aufgelauert! Stell dir vor, ich hab zur Zeit andere Sorgen. Glaubst du, ich bleibe immer noch die halbe Nacht auf, bis du kommst? Weißt du, so blöd bin ich nicht. Ich war es, aber heute bin ich der erste, der darüber lacht. Glaub mir, ich war zufällig da. Und eins will ich dir sagen: Wenn du getan hättest, was dieser Junge von dir verlangt hat, wäre ich auch nicht vor Wut oder Zorn geplatzt. Und du findest, ich hätte mich nicht geändert?«
Sie betrachtete ihr Glas und grübelte schweigend nach, keineswegs verwirrt ob meiner Anspielung auf die oralen Praktiken, vor deren Anblick mich der Himmel bewahrt hatte.
»Ach was, im Grunde hast du recht«, fügte ich hinzu und stand auf, um mir die Flasche zu angeln. »Niemand kann sich wirklich ändern. Aber gib zu, daß ich dich nicht am Gängelband führe. Du kannst Umgang haben, mit wem du willst. Und die Nächte, in denen du nicht nach Hause kommst, zähle ich nicht. Wenn du meinst, daß ich dich immer noch in deiner Freiheit einschränke, na ja, weißt du, ich würde sagen, dann übertreibst du. Ehrlich. Der letzte Einspruch, den ich gegen deine Ausflüge erhoben habe, muß ewig her sein, wenn ich mich nicht irre. Und ich verlange auch nicht, daß du mir erzählst, was du treibst …«
»Ich glaube auch nicht, daß dich das sehr erfreuen würde«, entgegnete sie kühl.
»Warum nicht? Sind deine Freunde so ungeschickt?! Machen sie es mit todernstem Gesicht und nachdem sie die Vorhänge zugezogen haben? Mein armer Liebling, mich ärgert nur, daß du mit solchen Schwachköpfen ins Bett gehst …«
»Weil keiner von ihnen vor deinen Augen Gnade findet, nicht wahr? Du redest kaum ein Wort mit ihnen, kommst aber schnell zu dem Urteil, daß sie nichts taugen. Du bist dermaßen nett zu ihnen, weißt du, was sie zu mir sagen? ›O nein, bitte nicht … laß mich nicht mit deinem Vater allein!!‹«
»Mmm, wirklich?«
Ich schenkte ihr nach, die Stirn in Falten, heuchelte eine plötzliche Verstimmung. Die armen kleinen Lämmer!
»Na schön, paß auf, ich will dir die Wahrheit sagen«, seufzte ich und bediente mich ebenfalls. »Jeder Mann, der dich anfaßt, ist mein Feind oder etwas in der Art. Jedenfalls kann ich ihn nicht in mein Herz schließen, das ist unmöglich. Ich weiß, das ist ein wenig brutal, und das hält auch nicht stand, wenn man darüber nachdenkt, aber das ist nun mal so, ich kann nichts dafür.«
»Ich hoffe, das ist ein Scherz?«
»Nein, das ist kein Scherz, aber ich gehe unverdrossen dagegen an. Unser einziger Daseinsgrund hier auf Erden scheint mir zu sein, Prüfungen zu bestehen. Und das ist eine ganz gewaltige, wenn du mich fragst. Es ist nicht immer einfach, sich selbst zu verstehen. Weißt du, daß mir, unabhängig von diesem Problem, jener weibliche Teil, der in mir ist – in jedem Mann, meine ich –, zugänglicher, klarer erscheint als meine männliche Seite? Die ist ein wenig so wie der unsichtbare Teil eines Eisbergs. Kannst du mir folgen? Laß es mich anders sagen: Ich glaube, ich kann verstehen, wozu eine Frau gut ist, aber ein Mann, wozu ist der eigentlich gut? Was heißt das: Ich bin ein Mann?«
»Schön, ich geh ins Bett. Du bist unerträglich, wenn du getrunken hast.«
»Ich habe getrunken, weil deine Mutter gegangen ist. Robert hat heute abend ihre Sachen abgeholt.«
»Klar, was hast du dir erhofft?«
»Manche Bilder schmerzen mehr als andere, das ist alles. Würdest du mir einen Kuß geben, bevor du schlafen gehst? Oh, bitte verzeih mir diese Gefühlsduselei, es geht mir auch nicht darum, daß wir einander in die Arme fallen, wo denkst du hin, das sei fern von mir.«
Ich hatte meinen Satz noch nicht beendet, als sie aufstand und mich allein in meinem sentimentalen Brei patschen ließ.
»Hej!« schnauzte ich ihr nach, während sie die Treppe hinaufging. »Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich dich um wer weiß was bitte!«
Auf Saint-Vincent blieben nur noch zwei Wochen bis zum Ende der Kurse. Die bevorstehenden Prüfungen versetzten das Haus in eine Art besorgte Apathie, die meinem Gemütszustand angemessen war, mit anderen Worten: Man ließ mich in Ruhe. Ich hatte keine Freunde unter den
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