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Pas de deux

Pas de deux

Titel: Pas de deux Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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knurrte er. »Giselle ist dazu da, daß ihr euch ernähren und anziehen könnt und nicht auf der Straße schlafen müßt! Verdammt und zugenäht, dieser ganze Stuß macht mir nicht mehr Spaß als euch! Was glaubt ihr denn, warum wir für die Feiertage den Nußknacker hervorholen? Um Martha Graham zu imponieren?!«
    Niemand zweifelte daran, auf welcher Seite Georges eigentlich stand. Die glühende Bewunderung, die er für die Arbeit von Balanchine oder Robbins empfand, ließ ihn mitunter so hitzig werden, daß einem Hören und Sehen verging, wenn man das Pech hatte, mit ihm darüber zu diskutieren. An diesem Abend jedoch nippte das Sinn-Fein-Ballett am Kelch der Bitterkeit, wenngleich man zugeben mußte, daß Georges recht hatte, und meine Mutter und einige andere gingen hinaus in die Nacht, um, wie sie mir sagte, »sich mit dem Geist zu vermählen, der über die Stadt weht«. Wortwörtlich.
    Der Winter war streng. Eines Nachts fiel ich aus dem Bett und wälzte mich brechend und spuckend und mit entsetzlichen Bauchschmerzen auf dem Boden, und ich schrie wie am Spieß. Alle wurden wach, die Haare standen ihnen zu Berge. Sie riefen Spaak an, während ich mich hin und her warf und meine Bettwäsche weiter mit heißen Strahlen besudelte. Eine halbe Stunde später – aber die Schmerzen setzten mir dermaßen zu, daß ich kein Gefühl mehr für die Zeit hatte –, lag ich in seinem Wagen, und wir rasten über die vereisten Vorortstraßen zum Krankenhaus. Ich wußte auch, daß wir in dieser Nacht minus zweiundzwanzig Grad hatten und daß er sich den Kotflügel seines Delahaye zerdepperte, als wir über die äußeren Boulevards schlitterten. Das war eine akute Bauchfellentzündung, und er operierte mich auf der Stelle.
    Edith erzählte mir später, ich hätte, während man mich zum Wagen brachte, ihre Hand fest umklammert, so daß sie, wie auch Ramona und meine Mutter, mitgefahren sei. Von ihr erfuhr ich, daß meine Mutter, einer Ohnmacht nahe, in Spaaks Arme gesunken sei, als er aus dem OP kam und ihr erklärte, es sei alles in Ordnung. Und daß sie sich eine Weile in seinem Büro eingeschlossen hätten.
    »Was hältst du davon?«
    »Na, muß ich dir das noch erklären?« murmelte ich.
     
    Bei meiner Entlassung veranstaltete Georges ein Fest mit allem Drum und Dran, galt es doch nicht nur meine Heimkehr, sondern auch eine Art Wunder zu feiern, an das er schon nicht mehr geglaubt hatte: die Stadt hatte dem Georges-Sinn-Fein-Ballett einen – wie er mir sagte, fast schon beträchtlichen – Zuschuß gewährt.
    »Und weißt du, was das heißt?« fügte er hinzu, während er mich vom Krankenwagen zur Haustür transportierte und mir seinen alkoholgeschwängerten Atem ins Gesicht blies. »Das heißt, daß deine Mutter endlich mit den Knien nach innen tanzen darf, alter Freund, kannst du dir das vorstellen?!«
    Bei diesen Worten brach er in ein irres Lachen aus, drückte mich an sich und hüpfte die Stufen hinauf, die zur Tür führten.
    Ich war froh, nach Hause zu kommen und meine Narbe vorführen zu können, obwohl die meisten sie schon zwei-, dreimal gesehen hatten. Das Erdgeschoß des Hauses, das vor unserem Einzug in ein Studio verwandelt worden war, beherbergte eine ganze Armee von, wie unsere Eltern sagten, »Künstlern«. Das hieß, daß man sich unter all diesen Leuten vergeblich nach einer Krawatte oder einem Abendkleid umschaute. Uns persönlich waren die festlicheren Empfänge lieber, die versiegelten Parkettböden und die großen Kronleuchter, die an der Decke funkelten, die Buffets, auf denen sich Tonnen von Speisen und Süßigkeiten stapelten, die wir bis zum Überdruß verschlangen, ohne uns um die Moralpredigt zu scheren, die uns auf der Rückfahrt erwartete, wenn sich Georges rülpsend zu Palavern verstieg, in denen er mit der Hälfte dessen, was aufgefahren war, alle Bedürftigen der Stadt ernährte. Daß wir – trotz des großen Glases doppeltkohlensauren Natriums, das man uns kredenzte – nicht einschlafen konnten, hatte jedoch nichts damit zu tun, daß wir uns schämten.
    Die ganze Straße war mit Wagen verstopft, und es kamen immer mehr. Das war ein Tohuwabohu, wie wir es lange nicht mehr erlebt hatten. Ich fühlte mich nach meiner Operation topfit. Ich hatte die Gunst gehabt, in einem Krankenwagen vorgefahren zu werden, und Georges hatte mich wie einen armen Fußkranken ins Haus getragen, doch in Wirklichkeit stand ich längst fest auf den Beinen und war wieder bei Kräften. Edith und Oli zogen mich zu

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