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Waschbecken mit einem Spiegel und ein WC mit einer grünen Matte davor, deren Farbe sich mit den gelben Fliesen biss.
»Warte kurz«, sagte Nel. »Dann hole ich dir ein Handtuch und frische Kleidung. Wenn du schon mal hier bist, kannst du genauso gut auch duschen.«
Erst als er die Tür zuzog, sah er es. Jemand hatte das Schloss herausgepult und falsch herum wieder eingesetzt. Der Drehknopf befand sich nun an der Außenseite. Nicht er, sondern Nel konnte die Tür abschließen. Sie hatte das Schloss gerade von Weiß auf Rot gedreht.
Jerros Hoffnung zerbröselte. Für ein paar Übernachtungen machte man sich nicht so viel Mühe. Es sah immer mehr danach aus, als würde er hier sehr viel länger bleiben müssen.
Nel machte die Badezimmertür wieder auf. Sie blieb auf der Schwelle stehen und hielt den Taser auf ihn gerichtet, während sie ihm mit der anderen Hand ein Badetuch und ein paar Kleidungsstücke reichte. »Du hast zwanzig Minuten.«
Sobald sie weg war, hängte er das Handtuch an den Haken neben der Dusche. Das T-Shirt, die saubere Unterhose und die Socken legte er auf den Waschbeckenrand. Dann probierte er die Türklinke aus – nein, das rote Besetztzeichen war keine Attrappe – und setzte sich auf das WC.
Vor vier Tagen hatte er noch auf seiner eigenen Toilette gesessen. Warum dauerte es so lange, bis seine Eltern Lösegeld zahlten? Er versuchte, sich plausible Gründe auszudenken. Weil seine Eltern den Drohbrief mit den Forderungen erst heute bekamen. Weil niemand die Nachricht auf dem Anrufbeantworter abhörte, die die Entführer hinterlassen hatten – sie konnte sogar aus Versehen gelöscht worden sein. Weil ein Obdachloser den Entführern zuvorgekommen war, als Jerros Vater das Geld wie verabredet in eine Mülltonne gesteckt hatte. Er wollte sich das Essen für den Tag zusammensuchen und fand eine Plastiktüte voller Geldscheine – so konnte er stattdessen gleich in ein 5-Sterne-Restaurant gehen. Weil derselbe Mülleimer vorzeitig geleert worden war und ein Wagen der Müllabfuhr die Euroscheine fein zermahlen hatte. Weil, weil, weil …
Jerro hasste diese Unsicherheit. Er hatte immer geglaubt, es müsse ein fantastisches Gefühl sein, wenn man nicht wie er jeden Tag genau wusste, was einem bevorstand. Wenn man gehen und stehen konnte, wo man nur wollte, sodass immer wieder unerwartete und spannende Ereignisse auftreten konnten. Dass man dann erst spürte, dass man wirklich lebte. Aber jetzt sehnte er sich nach seinem sicheren, vorhersehbaren Leben und vermisste Alfred, der alle Probleme und Gefahren aus dem Weg räumte – etwas, das er selbst nie gelernt hatte.
Er starrte auf das rote Türschloss. Die Kleidungsstücke auf dem Waschbecken. Die Entführer hatten offenbar eingeplant, dass er eine ganze Weile hier wohnen würde. Sonst hätten sie nicht extra Kleidung für ihn eingekauft. Und zwar nicht nur ein T-Shirt, sondern mindestens zwei – und wer weiß, wie viele noch in dem Schrank im Schlafzimmer lagen. Allesamt in seiner Größe.
Er rieb sich über seinen harten Unterbauch. Einen Moment schien es, als würde sich der Darm an die Arbeit machen, denn er verspürte ein paar Krämpfe, aber der Schmerz verebbte wieder, nachdem er ein paar Mal tief eingeatmet hatte. Er senkte den Kopf und starrte auf seine Socken. An den Fersen wurden sie schon ziemlich dünn. Selbst in einem Secondhand-Laden verkauften sie nicht solche verschlissenen Sachen. Das galt im Übrigen auch für sein T-Shirt und für alle Möbel im Schlafzimmer. Bei näherer Betrachtung hatten die Entführer wohl doch nicht extra für ihn eingekauft. Das Bett und die Kleidungsstücke hatte schon jemand anderes benutzt. Ein anderer Junge, der hier gewohnt hatte, bevor Jerro kam, und der wahrscheinlich gleich alt, auf jeden Fall aber genauso groß wie Jerro war.
Ob Nel einen Sohn hatte?
Aber wo war dieser Junge dann jetzt und warum brauchte er seine Sachen nicht mehr?
Vielleicht war er ja tot!
Jerro überlief es gleichzeitig kalt und glühend heiß.
Er kannte eine Geschichte über eine Frau, die nach einer Fehlgeburt das Baby einer anderen Mutter aus dem Krankenhaus gestohlen hatte. Angenommen, Nel hatte auch so etwas getan? Vielleicht war sie eine gefährliche Irre, die ihn hatte entführen lassen, damit er den Platz ihres Sohnes einnahm …
Je länger Jerro darüber nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, dass es genau so gewesen sein musste. Darum dauerte das alles so lang. Nel war gar nicht an Lösegeld
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