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Passwort: Henrietta

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Titel: Passwort: Henrietta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava McCarthy
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was passieren mochte.
    Ashford wandte sich mit ausgestreckter Hand an Harry. Sie biss sich auf die Lippen. Er stand vor ihr, hatte den Kopf geneigt, seine Haare glichen Zuckerwattesträhnen. Sie hatte keinerlei Beweise, dass Ashford ihr hatte Schaden zufügen wollen. Vielleicht war er eines der Ringmitglieder gewesen, vielleicht auch nicht. Sie wusste nur: Er war ein Freund ihres Vaters. Harry musterte seine großen, traurigen Augen und streckte ihm langsam die Hand entgegen.
     
    Nach sechs Wochen war bei ihrem Vater noch immer keine Besserung eingetreten. Beim letzten Abschalten des Beatmungsgeräts hatte er einen Herzstillstand erlitten. Er war nun sichtlich schwächer.
    Harry berührte die Finger ihres Vaters. Sie waren warm, reagierten aber nicht. Sie starrte auf das Blatt in der Hand ihrer Mutter, auf dem in dicken Lettern »Keine WBM « stand. Die Schwester hatte es wenige Minuten zuvor zur Unterschrift dagelassen, nachdem der Arzt erklärt hatte, was es bedeutete.
    Er hatte von Herz- und Kreislaufstillstand gesprochen und gesagt, Herz und Lungen ihres Vaters hätten aufgegeben. Bei manchen Patienten würde die künstliche Beatmung das Sterben nur verlängern. Schweigend hatten sie zugehört. Selbst Amaranta hatte nichts zu sagen gehabt.
    Schließlich hatte der Arzt leise hinzugefügt: »Irgendwann werden Sie vielleicht das Gefühl haben, es wäre besser, wenn keine Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet würden.« WBM . Wiederbelebungsmaßnahmen.
    Wenn sein Herzschlag aussetzen sollte, würden sie nicht mehr versuchen, ihn zurückzuholen.
    Nichts Heroisches.
    Harry drückte ihrem Vater die Finger und sah sich im Krankenzimmer mit den Schläuchen und piependen Monitoren um. Sie dachte an all die Dinge, die er ihr beigebracht, all die Orte, zu denen er sie mitgenommen hatte. Dieser sterile Raum hatte nichts mit dem Menschen zu tun, der er war.
    Sie sah zu ihrer Mutter, die noch immer das Formular umklammert hielt. Würde sie es unterzeichnen und damit ihr Einverständnis zu seinem Tod erteilen? Harry schloss die Augen. Wie sollte sie den Anblick ertragen können, wie sie ihren Vater unter die Erde brachten?
    »Mum?«
    Harry öffnete die Augen. Amaranta hatte ihrer Mutter die Hand auf den Arm gelegt und deutete auf das Formular. Miriam wandte sich zu Harry, fragend sah sie sie an. Harry schluckte und schüttelte den Kopf.
    Langsam faltete ihre Mutter das Formular zusammen und steckte es, nicht unterschrieben, in ihre Handtasche. Dann umfasste sie die Arme ihrer Töchter, erst den von Harry, dann den von Amaranta. Überrascht sah Harry sie an und ergriff ihre Hand. Sie hielten sich gegenseitig an den Händen und sahen zusammen zu der Maschine, die für ihren Vater atmete. Und dann wurde Harry etwas klar, was sie längst hätte kapieren sollen. Ihr Vater war weder ein Schwindler noch ein Held. Letztendlich war er nur ein Mensch.
    Harry zog eine Weile zu ihrer Mutter, in das Haus, das einst ihr Zuhause gewesen war, und wusste nicht recht, wer nun wen tröstete. Ihr Vater atmete weiter: ein, aus, auf, ab. Als es so aussah, als würde sich nie mehr etwas daran ändern, flog Harry auf die Bahamas.

[home]
    55
      
    D ie schwüle Hitze traf sie wie eine Wand, als sie auf dem Flughafen in Nassau aus der Maschine stieg. Vor der Ankunftshalle rief sie sich ein Taxi und hoffte insgeheim, Ethan würde am Steuer sitzen. Er tat es natürlich nicht.
    Sie lehnte sich zurück, die Bummelfahrt und der schläfrige Reggae im Radio wirkten wie ein Betäubungsmittel. Sie sah hinaus auf die feuerrote und mandarinengelbe Landschaft. Einen Monat zuvor war sie hierhergekommen, um eine Bank zu betrügen. Jetzt war sie aus einem ganz anderen Grund da.
    Das Taxi kroch durch das Verkehrschaos der Bay Street und überquerte die Brücke zur Paradise Island. Schlanke weiße Jachten hatten am Hafen festgemacht, krakeelende Möwen latschten über den Pier. Die Muschelverkäufer unter der Brücke riefen die Preise für die fangfrische Ware aus, die Marktstände quollen über mit schimmernden Fischen, goldenen Bananen und Ananas. Sie atmete die salzige Luft ein und war überrascht, wie sehr sich alles anfühlte, als käme sie nach Hause.
    Das Taxi ließ sie vor dem Atlantis Resort Hotel raus, wo sie in ein Zimmer eincheckte, gegenüber dem sich das Nassau Sands wie eine Jugendherberge ausnahm. Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, ging sie hinunter zur großen kuppelüberwölbten Lobby. Sie umklammerte fester den Koffer in der Hand, ging durch

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