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liege.
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54
E inzig die Maschinen hielten ihn am Leben.
»Wie lang kann das noch so gehen?«, fragte Miriam.
Harry konnte nicht antworten. Sie saßen zusammen am Bett ihres Vaters, während Amaranta vor die Tür gegangen war. Sie unterhielten sich flüsternd, innerlich schrie aber alles in Harry auf.
Seit Wochen versuchten die Ärzte, ihn vom Beatmungsgerät zu nehmen. Jeden Tag musste er bei einem halbstündigen Test ohne maschinelle Hilfe atmen, jedes Mal zeigte er Anzeichen von Atemstillstand und musste wieder angeschlossen werden.
Die diensthabende Schwester hatte ihnen geraten, bei den Tests nicht anwesend zu sein. Wahrscheinlich hatte sie gespürt, welche Spannungen innerhalb der Familie herrschten, und vermutete, dass sie beim Patienten nur Unruhe auslösten. Harry bedauerte es nicht. Wie sollte sie den Anblick ertragen können, wie ihr Vater mit seinem zu schwachen Zwerchfell um Atem rang? Wie sollte sie den Anblick ertragen können, wie ihr Vater langsam erstickte?
Sie starrte auf seine gebrechliche Gestalt. Die Arme lagen ausgestreckt am Körper, die Bettdecke war vollkommen glatt gezogen. Er sah aus, als wäre er geschrumpft, wie eine Puppe. Was Harry jedoch am meisten auffiel, waren die mechanischen Bewegungen seines Brustkorbs.
Sie musste schlucken. Das war also der Unterschied zwischen Leben und Sterben: das Heben und Senken des Körpers unter der Spontanatmung. Ihre Augen brannten. Sie sah weg.
»Lass es nicht an dich ran«, sagte Miriam mit ihrer leisen Stimme. »Nur so kommst du damit zurecht.«
Harry sah zu ihr. Das Gesicht ihrer Mutter war von einem geisterhaften Grau. Mit erhobenem Kinn und geraden Schultern starrte sie auf ihren Mann. War so ihre Mutter mit dem Leben zurechtgekommen? Indem sie immer alles ausgeblendet hatte?
Harry drückte ihr den Arm. Keine Reaktion. Sie ließ die Hand sinken, stand auf und ging zur Tür, um mit Amaranta Platz zu tauschen. Sie verließ das Zimmer, ohne ihren Vater zu berühren. Es wäre ihr nur vorgekommen, als würde sie Abschied von ihm nehmen.
Die Atmungstests erstreckten sich über mehrere Wochen.
Besucher kamen und gingen, eine endlose Prozession von Freunden und Nachbarn, die ihm ihre Unterstützung zuteilwerden ließen. Harry kannte sie kaum, aber alle sprachen ihre Mutter mit Vornamen an. Angesichts der gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sich daraus ergaben, schien das Leben in Miriam zurückzukehren. Gelassen und charmant empfing sie die mitfühlenden Besucher. Harry war die Einzige, die das Zittern ihrer Hände bemerkte.
Jude kam jeden Tag ins Krankenhaus. Den Arm trug er noch in einer Schlinge, die Verbrennungen im Gesicht heilten allmählich ab. Er hatte nichts Aufdringliches an sich, blieb immer draußen im Gang, als wolle er ihr sagen, dass er da sei, falls sie ihn brauchte.
Harry war sich nicht sicher, was sie brauchte. Nur dass sie nicht mehr an Helden glaubte – das war das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen konnte.
Imogen kam zu Besuch. Sie sah blass und schockiert aus und hatte wohl noch immer an der Wahrheit über Dillon zu knabbern. Auch sie hatte in gewisser Hinsicht einen Helden verloren. Sie brachte die Zeitung mit, in der Ruth Woods’ Geschichte veröffentlicht worden war. Dillons Geschäfte wurden darin kritisch beleuchtet. Er hatte seit einiger Zeit mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Seine ehrgeizige Strategie, andere Unternehmen aufzukaufen und mit Lúbra zu verschmelzen, hatte sich als kontraproduktiv herausgestellt. Er zahlte zu viel für die übernommenen Firmen, und als sein eigenes Vermögen zur Neige ging, finanzierte er die Erwerbungen mit Schulden, die er nicht zurückzahlen konnte. Viele der Firmen waren mittlerweile nichts mehr wert, die Gläubiger drohten mit Insolvenzverfahren. Bei seinen Insidergeschäften hatte Dillon allem Anschein nach ein glücklicheres Händchen bewiesen als bei seinem eigenen Unternehmen.
Als Ashford zu Besuch kam, erstarrte Harry. Sie sah, wie er ihrer Mutter die Hand gab. Sie hatte der Polizei nichts von der Verbindung zwischen Leon und Ashford erzählt. Schließlich hatte sie ja nur einen Namen. Sie beobachtete, wie ihre Mutter mit den Tränen kämpfte, und wusste nicht recht, was sie dabei empfinden sollte. Wie würde es ihre Mutter aufnehmen, wenn Ashford ins Gefängnis gesteckt werden würde? Sie sah zu Miriam, die die Fassung wiedergewonnen hatte, und ging davon aus, dass ihre Mutter damit wahrscheinlich schon zurechtkommen würde – egal,
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