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Passwort: Henrietta

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Titel: Passwort: Henrietta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava McCarthy
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Boden. Der Geländewagen raste mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen davon, brach auf nur zwei Rädern um die vorausliegende Kurve und verschwand aus dem Blickfeld.
    Mit zitternden Armen und Beinen stieß sich Harry vom Wagen ab und taumelte zu ihrem Vater. Er lag regungslos auf dem Rücken, die Augen geschlossen, sein Gesicht kreidebleich. Ein scharlachrotes Rinnsal sickerte aus dem Mundwinkel in seinen Bart.
    Heute werde ich dir zeigen, was mit Leuten geschieht, die mich hintergehen.
    Sie hörte das kreischende Tor, Schritte. Sie kniete sich neben ihren Vater und berührte seine Wange. Trotz der warmen Sonne fühlte sich seine Haut kalt an.

[home]
    38
      
    H arry sah sich im Kreis der Familie um und versuchte, sich zu erinnern, wann sich das letzte Mal alle zusammen in einem Raum befunden hatten. Es gelang ihr nicht.
    Ihre Mutter saß ihr gegenüber, ihre knochigen Hände umklammerten wie Klauen die Gucci-Handtasche. Neben ihr Amaranta, die Fingerknöchel gegen die Lippen gepresst, so dass von ihrem Mund nichts mehr zu sehen war.
    In der Stille war nur das Zischen und Säuseln des Beatmungsgeräts zu hören, das seine Lunge mit Sauerstoff versorgte. Harry beobachtete das gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust, das einzige Anzeichen, dass ihr Vater noch am Leben war. Schlaff hing die Haut von seinen Armen, Blutergüsse in der Farbe von Auberginen waren an den Stellen zu erkennen, wo man nach einer Vene gesucht hatte.
    Gravierende innere Verletzungen, hatten die Ärzte gesagt. Milzriss, punktierte Lunge, Schäden an Leber und Nieren. Er war sofort operiert worden, um die Blutungen zu stillen. Ob er überleben würde, wollten sie nicht sagen.
    Harry atmete tief durch. Ihre Augen brannten, das Taschentuch in ihrer Hand hatte sich beinahe aufgelöst. Ihre Füße berührten die blaue Reisetasche ihres Vaters, die unter dem Bett verstaut war. Sie rutschte auf dem Stuhl herum.
    Amaranta richtete ihre rotgeränderten Augen auf sie. »Mit der Polizei bist du fertig?«
    »Sind vor etwa einer Stunde gegangen«, sagte Harry. »Sie behandeln es als Fahrerflucht.«
    Die Polizei hatte sie beinahe zwei Stunden lang befragt. Erneut hatte Detective Lynne schweigend, aber aufmerksam zugehört. Sie hatte ihnen alles erzählt. Alles, bis auf die zwölf Millionen Euro. Sie sah zu den Schläuchen, die aus dem Körper ihres Vaters wucherten und sich zu den Monitoren neben dem Bett schlängelten. Vielleicht hätte sie davon auch erzählen sollen. Was konnten sie ihm in seinem Zustand jetzt noch antun?
    Ihrer Familie hatte sie nichts erzählt. Ihre Mutter und ihre Schwester gingen davon aus, dass ihre Schnitte und Abschürfungen von heute stammten, sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie eines Besseren zu belehren. Es hatte ja keinen Sinn. Selbst die Polizei schien an ihrer Geschichte zu zweifeln und vermittelte nicht das Gefühl, als wäre die Kavallerie unterwegs. Sie wussten ja noch weniger als sie.
    »Du hättest mich mit ihnen reden lassen sollen«, sagte Amaranta.
    »Als ob es an mir gelegen hätte. Warum sollten sie mit dir reden wollen? Schließlich bist du nicht mit dabei gewesen, als es passiert ist.«
    »Ich hätte aber dabei sein sollen. Er hätte bei mir wohnen können.« Finster sah sie Harry an. »Ich hab ihm ein Zimmer angeboten, er hätte so lange bleiben können, wie er wollte. Wo hätte er sonst hin sollen?«
    Harry zuckte mit den Schultern. »Hab ich dir doch gesagt, ich weiß es nicht.«
    Das Beatmungsgerät zischte und fauchte, der Herzmonitor piepte sekündlich.
    »Er wollte zu mir kommen«, sagte Miriam mit leiser und so rauher Stimme, als wäre ihr Gaumen mit Sirup belegt.
    Harry zog die Brauen hoch. Es war das Erste, was ihre Mutter seit einer Stunde gesagt hatte.
    Miriam sah sie an. »Warum nicht? Ich wohne lange genug allein dort. Ich hab ihm gesagt, er könnte für eine Nacht bleiben. Nur damit er auf die Beine kommt.«
    Ihr Blick blieb an Harry hängen. Ihre Augen waren wässrig und trüb. Falten zogen sich quer über ihre Oberlippe, als wäre ihr Mund ständig um eine Zigarette gespitzt. Sie schniefte und sah wieder weg.
    »Ich wusste nicht, dass er andere Pläne hatte«, sagte sie.
    War es zu fassen? Harry rollte mit den Augen und stand auf. »Ich brauch mal eine Pause. Ich geh kurz vor die Tür.«
    Sie trat in den Gang und schloss hinter sich die Tür, lehnte sich dagegen und atmete den Geruch von Kranken und Kantinenessen ein.
    »Wie geht es ihm?«
    Sie fuhr herum. Jude Tiernan.

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