Passwort: Henrietta
Intuitiv stellte sie sich vor die Tür, als wolle sie ihm den Zutritt verwehren.
Er hob beide Hände. »Ich bin nicht gekommen, damit wir uns wieder streiten. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es ihm geht.« Er hielt inne. »Wie geht es Ihnen?«
Harry starrte ihn an und versuchte, seine Absichten einzuschätzen. Er trug wieder seinen ordentlichen, steifen Anzug, nur das Haar stand ihm an einer Stelle hoch, wo er sich mit der Hand durchgefahren sein musste.
»Woher wissen Sie, dass er hier ist?«, fragte sie.
»Ashford hat es mir gesagt. Fragen Sie mich nicht, woher er es wusste.« Er schob die Hände tief in die Taschen und sah sich im Gang um. »Krankenhäuser und Gefängnisse. Kann beides nicht ausstehen.«
»Ich auch nicht.«
Er starrte auf seine Schuhe. »Ich hätte ihn besuchen sollen. Im Gefängnis, meine ich.«
»Warum sollten Sie?«, sagte sie. »Wir haben ihn alle nicht besucht.«
»Weil ich eigentlich sein Freund bin.«
Mit jämmerlicher Miene und eingefallenen Schultern stand er vor ihr. Die Vorstellung, er könnte ihr Böses wollen, kam ihr im Moment völlig absurd vor.
Einige Minuten lang schwiegen sie. Dann, ohne aufzublicken, sagte Jude: »Meinen Sie, er schafft es?«
Die Frage traf sie wie ein Schlag in den Magen. Sie schüttelte den Kopf und schluckte; sie konnte darauf nichts antworten. Ihr Vater konnte doch nicht sterben. Er musste doch für immer leben.
Sie schloss die Augen. Wieder sah sie den Geländewagen vor sich, der auf sie zuraste: metallic-schwarz, Rammbügel aus Aluminium. Ein weiteres Standbild, eine Nahaufnahme: der Fahrer mit dunkler Mütze, weiße Haarsträhnen, tief über das Steuer gebeugt, während er ihren Vater niedermähte. Sie schlug die Augen auf und biss sich auf die Lippen.
Nicht weinen, nicht weinen.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie etwas sagen konnte.
»Die Ärzte haben ihn noch nicht aufgegeben, und ich auch nicht«, sagte sie schließlich. »Ich geh lieber mal wieder rein.«
Jude nickte und berührte sie leicht am Arm. »Ich weiß, Sie können selbst auf sich aufpassen, aber ich würde gern helfen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, drehte er sich um und ging mit den Händen in den Taschen davon. Sie sah ihm nach. Dann betrat sie wieder das Zimmer ihres Vaters.
Ihre Mutter und Amaranta hatten sich nicht von der Stelle bewegt. Sie saßen Seite an Seite. Verblüfft wurde Harry klar, wie ähnlich sie sich sahen. Eine Ähnlichkeit, die mit dem Alter noch zuzunehmen schien. Die gleiche helle Haut, die gleiche knochige Gestalt, der gleiche gereizte Gesichtsausdruck. Sie sahen auf, als sie den Raum betrat. Mutter und Tochter, eine gemeinsame Front. Harry, die sich nicht mehr setzen wollte, blieb am Kopfende des Bettes stehen.
Amaranta warf sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und stand auf.
»Komm, Mum, ich fahr dich nach Hause. Du bist erschöpft.« Sie wartete, dass sich ihre Mutter rührte. »Du bist seit Stunden hier. Wir kommen morgen früh wieder. Die Schwestern werden uns Bescheid geben, falls sich was ändern sollte.«
»Fahr du ruhig zu deiner Familie nach Hause.« Miriam umklammerte fester ihre Handtasche. »Harry kann mich nach Hause bringen.«
Blinzelnd sah Harry zu ihrer Schwester, die glatt vergessen hatte, ihren Mund wieder zu schließen.
Amaranta runzelte die Stirn. »Hör zu, Mum …«
»Ich möchte mit Harry reden.«
Harry war völlig perplex.
»Gut, wenn du meinst.« Amaranta zögerte noch einen Augenblick, als erwarte sie, dass ihre Mutter ihre Meinung änderte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, durchbohrte Harry mit ihrem Blick und rauschte an ihr vorbei.
»Sorg dafür, dass sie nicht zu lange hierbleibt.«
Harry schüttelte den Kopf und sah ihr hinterher, bis die Tür ins Schloss fiel. Dann blickte sie zu ihrer Mutter, die ihren Mann, das Heben und Senken seiner Brust, beobachtete und dabei an der Perlenkette an ihrem Hals zupfte. Die Sehnen an ihrem Hals standen wie Baumwurzeln heraus, die Haut darum war schlaff und faltig. Trotz ihrer Ankündigung schien ihr nicht nach Reden zumute zu sein. Harry beschloss, einfach zu warten.
Sie starrte auf das wächserne Gesicht ihres Vaters. Das Kopfende des Bettes war hochgestellt, so als könnte er jeden Moment die Augen aufschlagen und sich im Zimmer umsehen wollen. Harry hätte einiges dafür gegeben, wenn er die Augen aufgeschlagen hätte.
»Er war so bezaubernd, als ich ihn das erste Mal
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