Passwort: Henrietta
herum zu ihr, fasste sie am Ellbogen und half ihr aufzustehen. Zu Harrys Überraschung wehrte sie sich nicht. Er führte sie behutsam zur Tür, und Harry musste mehr als einmal schlucken, um den Kloß im Hals loszuwerden. Das alles erinnerte sie daran, wie Dillon sie oben in den Bergen zum Wagen geführt hatte. Plötzlich war der Wunsch, Dillon möge sie in den Arm nehmen, überwältigend.
Bevor Ashford die Tür erreichte, drehte er sich zu ihr um und reichte ihr seine Visitenkarte.
»Wenn Sie Hilfe brauchen, egal wobei, dann rufen Sie mich an«, sagte er. »Unter einer der Nummern bin ich immer zu erreichen.«
Harry zog die Augenbrauen hoch und dankte ihm. Plötzlich wollten ihr alle helfen. Die Tür schloss sich hinter ihnen, und zum ersten Mal war sie mit ihrem Vater im Zimmer allein.
Sie ging um das Bett herum und sank wieder auf den Stuhl, auf dem sie zuvor gesessen hatte. Sie kam sich völlig zerschlagen vor, Nachwirkung des Aufpralls auf ihren eigenen Wagen.
Ihr Blick kam auf dem Gesicht ihres Vaters zu ruhen. Weiße, gefurchte Schläuche kamen aus seinem Mund. Die Nasenlöcher darüber sahen gequetscht und in die Länge gezogen aus. Seine Hand lag auf dem Bett. Sie umfasste sie.
Dann sah sie auf die Visitenkarte, die sie noch immer in der anderen Hand hielt. Blaues Logo, Klein, Webberly and Caulfield, Ralph Ashford, Chief Executive Officer.
Harry blieb der Mund offen. Ralph? Dann schüttelte sie den Kopf. Es war – um Gottes willen – doch nur ein Name.
Ralphy-Boy.
Konnte Ashford der fünfte Banker sein?
Sie erinnerte sich an Ashfords Besuch in ihrem Büro, den silbernen Jaguar, den sie hinter sich gesehen hatte. Hatte er sie doch verfolgt? Sie dachte an Felix’ Gelächter, als sie versucht hatten, ihm das Passwort zu entlocken, und dabei Ashford als Drohkulisse gebraucht hatten. Hatte Felix gewusst, dass er in diese Sache verstrickt war? War er der Prophet?
Scheiß auf Ashford, und Scheiß auf den Propheten, wer immer er sein mochte. Sie musste das Geld finden, aber wie? Sie wusste noch nicht einmal, bei welcher Bank ihr Vater sein Konto hatte. Hätte er doch bloß mit ihr geredet und ihr geholfen.
Sie starrte zu Boden. Die blaue Reisetasche stand noch immer zu ihren Füßen. Sie stupste mit dem Fuß dagegen. Dann runzelte sie die Stirn. Sein gesamtes Hab und Gut aus Arbour Hill war darin verpackt. Ihr Nacken kribbelte.
Vielleicht konnte er ihr doch helfen.
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39
M athematiker lieben Zahlen. Sie lieben ihre Symmetrie und ihre Struktur, die Muster, die hinter ihrer subtilen Hexerei verborgen sind.
Harry wusste, dass ihr Vater von Natur aus ein Mathematiker war. Er konnte aus dem Gedächtnis alle Details seiner M&A-Transaktionen sowie die dazugehörigen Kalkulationen aufsagen. Er konnte einem auch zu jedem beliebigen Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeit für einen Straight Flush ausrechnen.
Aber wie gut er auch mit Zahlen umgehen konnte, selbst er würde sich nicht nur auf sein Gedächtnis verlassen, um sich die einzelnen Daten eines Offshore-Kontos zu merken. Nicht, wenn es dabei um zwölf Millionen Euro ging.
Harry starrte zur blauen Reisetasche auf dem Beistelltisch. Irgendwo musste er seine Bankdaten aufgezeichnet haben. Und alles, was er in den vergangenen sechs Jahren besessen hatte, befand sich hier in dieser Tasche.
Sie zog die Reisetasche näher heran. Sie hatte die Größe einer ansehnlichen Sporttasche mit einem doppelten Reißverschluss oben sowie breiten, ebenfalls mit Reißverschluss versehenen Seitentaschen vorn und hinten. Die Tasche war schwer, die Nähte der Leinwand spannten sich.
Sie zögerte und sah zum Wohnzimmerfenster. Die Dunkelheit hatte es zu einem schwarzen Rechteck werden lassen. Vor über zwei Stunden hatte sie das Krankenhaus verlassen, nicht ohne sich vorher von den Schwestern versichern zu lassen, dass sie sofort benachrichtigt werde, sollte sich der Zustand ihres Vaters ändern.
Es war seltsam ruhig im Wohnzimmer. Gewöhnlich hatte die Stille für sie etwas Beruhigendes, jetzt aber kam ihr die Wohnung leer vor. Sie war versucht, die Waschmaschine anzuwerfen, damit wenigstens irgendetwas Geräusche verursachte.
Sie wandte sich wieder der Tasche zu und öffnete die Reißverschlüsse oben. Das Erste, was sie zu sehen bekam, waren die Sachen, die ihr Vater getragen hatte, als er am Nachmittag Arbour Hill verlassen hatte. Es schnürte ihr beinahe die Luft ab. Der marineblaue Blazer und der weiße Pullover waren wahrscheinlich von einer der
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