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Passwort: Henrietta

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Titel: Passwort: Henrietta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava McCarthy
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Verkehr. Sie hatte gegenüber dem Haupteingang des Gefängnisses geparkt, nah an den Steinmauern der alten Collins Kaserne. Unübersichtliche Kurven in beiden Richtungen verstärkten noch das Gefühl der Abgeschiedenheit.
    Eine Frau in rotem Jogginganzug kam um die Kurve und schob einen Buggy den Hügel herauf. Das Kleinkind hatte einen Stock in der Hand und ließ ihn die Gefängnisgitterstäbe entlangklacken.
    Harry richtete den Blick wieder auf das nüchterne viktorianische Gebäude, das den Hügel beherrschte. Der Eingang mit seiner Vorhalle wurde durch ein Eisentor gesichert, das den Fallgattern in mittelalterlichen Burgen glich. Die Gefängnismauern, hier und da mit dicken, abschreckenden und dornigen Stacheldrahtknäueln gekrönt, kamen ihr noch höher vor als beim letzten Mal. Sie musste an das Böse denken, das hinter diesen Mauern versammelt war, das eingeschränkte Leben, das die Insassen führten. Sie schauderte.
    Hier wohnen die Drachen, dachte sie.
    Die Frau mit dem Buggy lief an ihr vorüber, das Kind hatte den Stock von den Gitterstäben genommen, um damit auf die gelben Rosenbüsche zu zeigen, die vor dem Gefängniseingang wuchsen. Die Frau joggte weiter, Harry sah sie im Rückspiegel verschwinden.
    Plötzlich ertönte ein lautes metallisches Geräusch. Ihr Blick kehrte zum Gefängnis zurück. Ein Wachmann unter der Vorhalle schloss das Tor auf. Es schwang weit auf und quietschte wie eine schlaffe Geigensaite. Der Wachmann machte einen Schritt zur Seite, und Harrys Vater trat heraus in den Sonnenschein.
    Er trug graue Hosen und einen weißen Pullover mit rundem Ausschnitt, darüber einen marineblauen Blazer. In der einen Hand hielt er eine blaue Reisetasche, mit der anderen schützte er die Augen, als er zum Himmel aufschaute. Dann schüttelte er mit einem Lächeln dem Wachmann die Hand. Er hätte gut und gern ein Marineoffizier sein können, der seinen Landgang genoss.
    Er trat auf den Zugangsweg, hinter ihm schloss sich quietschend das Tor. Harry beobachtete ihn. Welche Rolle spielte er nun? Den Wirtschaftskriminellen oder den erfolgreichen Banker? Den Helden ihrer Kindheit oder den gescheiterten Vater? Jedes Mal, wenn sie ihm begegnete, musste sie diese Frage aufs Neue abwägen.
    Sie atmete tief durch und stieg aus. Nach der Treibhausatmosphäre in ihrem Micra genoss sie die Luft, die ihr über die nackten Arme und das Gesicht strich. Beim Geräusch des zufallenden Tores sah er zu ihr, seine Miene verzog sich zu einem breiten, herzlichen Lächeln, das wunderbar zum fröhlichen Seemannsbild passte. Trotz ihrer Zweifel erwiderte Harry unwillkürlich das Lächeln.
    Sie trat auf die Straße und sah, wie er zu ihr eilte. Sein Gesicht schien im Sonnenschein noch bleicher zu sein, die schwarzen Brauen auf seiner aschfahlen Haut wirkten künstlich. Er schritt an den gelben Rosen vorbei, die Reisetasche schlug ihm gegen das Bein.
    Vielleicht würde wirklich alles gut werden. Vielleicht hatte ihr Vater einen Plan, um ihr zu helfen. Und falls nicht, würde sie damit auch zurechtkommen. Alles, was sie brauchte, war der Name der Bank. Ihre Fertigkeiten beim Social Engineering besorgten dann den Rest.
    Ihr Vater nahm die Reisetasche in die andere Hand, öffnete das Tor im Gitterzaun und trat auf die Straße. Dann runzelte er die Stirn und blinzelte nach links. Erschreckt riss er die Augen auf, und sie folgte seinem Blick.
    Das Erste, was sie sah, waren breite chromblitzende Rammbügel. Der Geländewagen, an dem sie befestigt waren, röhrte auf ihren Vater zu. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ihre Beine waren wie gelähmt. Sie sah, wie ihr Vater ihren Namen rief, aber sie hörte keinen Ton.
    Die Zeit schien sich auszudehnen. Eine Sekunde kam ihr wie fünf vor. Sie nahm alles gleichzeitig wahr: das Sonnenlicht, das sich auf den glitzernden Rammbügeln brach; das blasse, von Falten überzogene Gesicht ihres Vaters; die Hitze, die vom Micra hinter ihr aufstieg; die bräunlichen Ränder der gelben Rosenblüten.
    Ihr Vater rannte los, versuchte, dem Geländewagen zu entkommen, und krachte im Fallen auf sie, wodurch sie gegen ihren Wagen geschleudert wurde. Heißes Metall versengte ihre Haut, ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Schulterblätter. Ihr Gehör setzte wieder ein, das Dröhnen des Geländewagens bohrte sich in ihr Trommelfell. Ein lauter dumpfer Aufprall, und ihr Vater wurde hoch in die Luft geschleudert. Harry hörte sich aufschreien.
    »Papa!«
    Er landete wenige Meter von ihr entfernt auf dem

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