Passwort in dein Leben
seine Worte. Wie er über die Dinge redet, die für unseren Alltag wichtig sind, unsere Schule. Ein wenig ist es, als hätte ich bisher in einer anderen Welt gelebt, einer, die ein wenig ist wie ein Fantasyroman. Man streift durch die Wälder und bildet sich ein, ein andere Pfadistamm wäreder Feind, dem man einen Schatz stehlen muss. Händchenhalten auf Nachtwanderungen, getarnt als Schutz gegen das Stolpern, weil alles andere viel zu peinlich wäre. Vielleicht aber auch einfach nur eine Kindheitswelt, aus der Clara sich nicht verabschieden kann und die bei mir mit einem Lächeln von David verblasst …
Aber sein Lächeln ist fort, gilt jetzt Julia. Für mich hat er nur noch ein anderes, eines voller Schuld vielleicht. Eines, das mich bittet, für mich zu behalten, was er zu mir gesagt hat, wie weit wir zusammen gegangen sind.
Für mich gibt es jetzt offiziell Mario. Den es eigentlich gar nicht gibt. Plötzlich fällt mir die letzte Nacht wieder ein. Die Postings von Mario, die ich nicht geschrieben habe. Der Saft wird plötzlich ziemlich sauer, brennt in meiner Kehle. Meine Hand zittert ein wenig. Ich bin mir sicher, dass ich mir das alles nur ausgedacht habe. So wie die Feinde bei den Pfadfindern, so wie Claras Geist und die Räuberbande, die in ihrem Keller haust, oder die Piraten, die von der Schweiz her über den See gesegelt kommen, wenn die Nacht stürmisch genug ist …
»Ich muss mal schnell …«, murmle ich und stehe auf.
Als ich zur Tür gehe, spüre ich den Blick meiner Mutter im Rücken. Obwohl ich mich nicht umschaue, weiß ich genau, wie sie schaut. Traurig. Einmal habe ich sie zu ihrer Freundin am Telefon sagen hören: »Ich bin ja so froh, dass Sofie jetzt mit anderen Leuten befreundet ist. Aber trotzdem komme ich mir vor, als hätte ich sie verloren, als würde ich sie gar nicht mehr kennen. Ich hatte immer einen so guten Kontakt zu meinen beiden Mädchen …«
Dabei hat sie mich nie gekannt. Ein Mädchen aus unserer Pfadigruppe meinte einmal, dass sich Mütter das immer einbilden. Dabei kennen sie ihre Kinder am allerwenigsten. Das liegt ihrer Meinung nach daran, dass sie sich immer selbst in ihren Töchtern suchen, dass sie diese entweder als Konkurrenz wahrnehmen und schöner, besser und schlauer sein wollen oder als Perfektion des eigenen »Ichs«, als diejenige, die sie geworden wären, wenn sie so eine tolle Mutter gehabt hätten wie die eigene Tochter … Ich dachte damals, sie übertreibt. Aber irgendwas ist auf jeden Fall dran.
In meinem Zimmer riecht es muffig. Ich reiße das Fenster auf. Lauer Herbstwind weht mir die Vorhangschals ins Gesicht. Kribbeln auf meiner Kopfhaut. Ich nehme das Laptop, schließe das Stromkabel dran. Facebook.
Die Post von heute Nacht ist wirklich da. Und etwas Neues. Ein Gedicht von Erich Fried und daneben ein Bild von einer Tasse Kaffee.
»(…)
Ich bin so wach
dass ich dich küsse
und streichle
und dass ich dich höre
und nach jedem Schluck
zu dir spreche.
Und ich bin zu wach
um die Augen zu öffnen
und dich sehen zu wollen
und zu sehen
dass du nicht da bist.«
– Wann kommst du, meine Liebste? –
In seinen Account komme ich nicht mehr hinein. Ich fahre den Laptop runter, zähle bis zwanzig und mache einen Neustart. Alles ist wie vorher, ist wie heute Nacht. In seinen Account komme ich nicht mehr. Er ist offline und nicht mehr ich. Aber wer ist er? Ich habe niemandem erzählt, dass er nicht echt ist. Niemand ahnt etwas. Oder etwa doch?
Am Morgen nachdem ich Mario erfunden und seinen Account erstellt habe, bin ich extra früher aufgestanden, habe mich geduscht, Haarmaske aufgelegt, die Zehennägel frisch lackiert und stehe jetzt vor meinem Schrank.Zum ersten Mal in der Nach-Clara-Zeit habe ich Lust auf unsere Zwillingshose. Eine Hose, die Tatjana uns genäht hat, nachdem wir lange genug gebettelt und behauptet haben, genau so eine für den Sport zu brauchen. Die Zwillingshosen sind aus petrol und hellgrün quergestreiftem T-Shirt-Stoff und haben unten eine kleine Spitze. Niemand sonst trägt so eine. Aber das wäre dann doch zu krass. Ich entscheide mich für einen kurzen Rock und ein farbiges Top. Irgendwo zwischen Clara und Julia. Beim Frühstück lächle ich meine Eltern an. Sie bekommen es gar nicht mit, weil mein Vater in die Zeitung starrt und meine Mutter mit dem Toaster beschäftigt ist, der nicht richtig funktioniert und die Toasts immer anbrennen lässt. Der frisch gepresste Orangensaft schmeckt bitter und eklig. Das Brot krümelt
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