Pastworld
goldenen Beschriftungen in festlich verzierten Großbuchstaben geschmückt. Von Lebensmitteln über Eisenwaren bis hin zu eleganten Damenhüten wurde alles angeboten, was das Herz begehrte. Über den Läden lagen bescheidene Wohnungen und möblierte Zimmer. Unter der Schneedecke lugte hier und da ein Stück Dach oder ein Schornsteinaufsatz hervor.
Die Straße sah aus wie eine Weihnachtspostkarte und genau so war sie auch konstruiert und geplant worden.
Wartend blieb der Bettler stehen. Zitternd vor Kälte stand er so still, wie er nur konnte. Seine Füße waren taub und aus den halben Handschuhen sahen seine blauweißen Finger hervor. Er musste nicht allzu lange warten.
Ein aufgeregter Mann mit Brille und einem weißen Stock erschien schon bald oben auf der kurzen Eingangstreppe, die zu den Wohnungen neben dem Lebensmittelladen führte. Der Mann war nachlässig gekleidet. Statt eines Mantels trug er nur ein Tweedjackett und hatte einen Wollschal um den Hals geschlungen. Der zerlumpte Mann sah zu, wie sich die Gestalt die vereisten Treppenstufen hinabkämpfte. Eine Hand war fest um das eiserne Geländer, die andere um den weißen Stock geklammert, mit dem der Mann unsicher herumstocherte. Er bewegte seinen Kopf ruckartig von einer Seite zur anderen und versuchte, sich auf der immer noch belebten Straße zu orientieren. Der zerlumpte Mann wartete, bis der Blinde die Mitte des Gehsteigs erreicht hatte, dann löste er sich vom Briefkasten und schlurfte in sicherer Entfernung durch den Schnee hinterher.
Der Bettler schaute zu, wie der blinde Mann immer wieder Leute auf der Straße anhielt, sie etwas fragte und dann weiterging. Schließlich erreichte der Blinde die Kneipe an der Ecke, das Buckland Arms, und ging hinein.
Die Tür der Kneipe war sorgfältig zugezogen. Der zerlumpte Mann roch die säuerlichen Bierdünste und den Magenwärmer des Winters, den Buckland Punsch. Die Glasscheibe der Tür bestand aus Ätzglas mit eingraviertem Muster, das die Gaffer gegen Blicke von außen schützte. Doch in dem Muster befanden sich kleine Schlitze und Löcher und Rauten aus klarem Glas. Mit einem seiner geröteten Augen spähte der zerlumpte Mann durch eins der Gucklöcher.
Die Bar war voller Gaffer, Männer in Bowlerhüten und karierten Tweedjacketts, Männer mit Stoffmützen und weißen Schals, Frauen, die lachend an runden Marmortischen saßen – alle mit roten Gesichtern und in vergnügter Stimmung im warmen, gelblichen Licht des Kneipenraums.
Der zerlumpte Mann fröstelte und zog seinen schmutzigen Schal enger um den Hals. An der Saloon Bar ging der blinde Mann von einem zum anderen, dann von einem Tisch zum nächsten und zurück auf der anderen Seite des Raumes, von Nische zu Nische, und stellte seine Frage. Jedes Mal erntete er ein Kopfschütteln. Schließlich wandte sich der Blinde von der Bar ab, als wollte er gehen. Der zerlumpte Mann zog sich von der schweren Eingangstür zurück.
In wachsender Aufregung lief er ein Stück vor und blieb mitten auf dem Gehsteig wartend stehen, sicher, dass er gleich angesprochen werden würde. Ein Schwall warmer Luft und eine spiralförmige Wolke von Sägespänen kamen aus der Tür geweht, als der blinde Mann sie aufstieß und sich auf den Heimweg machte.
Den weißen Stock vor sich hinhaltend, um den Rand der Schneedecke auf dem rutschigen Pflaster ertasten zu können, kam der Blinde auf den zerlumpten Mann zu. »Entschuldigen Sie, mein Freund«, sagte er. »Ich suche ein Mädchen.«
»Das behauptet jeder«, erwiderte der Bettler mit verschlagenem Lachen, wobei er seine gelben Zähne zeigte.
»Nein, ich meine es ernst«, sagte der blinde Mann. »Sie können zweifellos gut sehen, mein Herr, bitte versuchen Sie doch, mir zu helfen. Sehen Sie, es handelt sich um meine einzige Tochter und sie ist weggelaufen, das dumme Mädchen. Sie ist siebzehn, von sehr schlanker Gestalt und mit hellen Augen. Haben Sie sie vielleicht gesehen?«
»Ich wünschte, es wäre so«, sagte der zerlumpte Mann. Sein dreistes Cockneylachen, wie es nur einem Bewohner des Londoner Eastend zu eigen ist, hatte einem drohenden Unterton Platz gemacht. Er rückte näher an den Blinden heran, sodass sie einen Moment lang mitten auf dem immer noch belebten Gehsteig dicht voreinanderstanden.
»Ich sag Ihnen was, geben Sie mir ’ne Kupfermünze«, zischte der Bettler eindringlich, »und ich helf Ihnen suchen.«
Der blinde Mann blinzelte ihn an, dann griff er mit seiner freien Hand nach dem Arm des Bettlers. Er
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