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Pastworld

Pastworld

Titel: Pastworld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Beck
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ertastete den groben, zerschlissenen, schmierigen Stoff der zerlumpten Kleidung. Dann schnüffelte er und konnte trotz der Kälte den schalen, ungewaschenen Geruch wahrnehmen.
    »Oh«, sagte der Blinde leise, »Sie sind einer von denen«, und machte ängstlich einen Schritt rückwärts, wobei seine Stiefel auf dem vereisten Kopfsteinpflaster ein wenig den Halt verloren. »Ich habe kein Geld dabei«, sagte er betont ruhig, »ich fürchte, ich kann Ihnen nichts geben.«
    »Knauserig wie ihr alle«, sagte der zerlumpte Mann mit schneidender Stimme, »ich hoffe für Sie, dass Sie das Mädchen finden.«
    »Und ich bete zu Gott, dass Sie sie nicht finden«, murmelte der Blinde leise vor sich hin.
    Der zerlumpte Mann stand im Schutz eines Ladeneingangs, zog ein Päckchen Zigarettenpapier und einen kleinen groben Tabakbeutel aus einer seiner Innentaschen und rollte sich eine Zigarette. Er rieb mit einem Streichholz über die Ziegelwand und zündete die Zigarette an, wodurch sein Gesicht im plötzlichen Lichtschein rosig aufleuchtete. Er sog den warmen Rauch ein, hustete ein wenig und rieb seine knochigen Hände aneinander. Er richtete sich aufs Warten ein, rauchte und behielt die Treppe zur Wohnung des blinden Mannes im Auge.
    Eine Stunde später kam der Blinde aus der Tür und stolperte ungeschickt die Treppe hinunter, indem er sich erneut auf seinen Stock stützte. Der zerlumpte Mann trat aus dem Ladeneingang heraus. Mit einem weißen Umschlag in der freien Hand hielt der Blinde seinen wehenden Mantel zusammen und presste das Kinn nach unten, um seinen Schal festzuhalten. Langsam ging er in Richtung des Briefkastens.
    Während der Blinde näher kam, lief der zerlumpte Mann rasch ein paar Schritte vor, stellte sich dem Blinden in den Weg und rempelte ihn ein wenig am Arm an, gerade genug, dass der Umschlag auf den Boden fiel und, weiß auf weiß, auf dem Schnee liegen blieb. Dem blinden Mann entfuhr ein erschreckter Schrei aus seiner Kehle. Sofort hob der zerlumpte Mann den Umschlag auf, auf dem in großer, kindlicher Schrift eine Adresse stand.
    »Es tut mir sehr leid«, sagte der zerlumpte Mann mit sanfter Stimme. »Ich glaube, Sie haben das hier fallen lassen. Erlauben Sie mir, es für Sie in den Briefkasten zu stecken, mein Herr.« Mit der Ecke des Umschlags hob er den Briefkastendeckel an und ließ ihn wieder zuklappen, sodass es sich anhörte, als hätte er ihn eingeworfen.
    »Bitte sehr! Jetzt ist er unterwegs und gerade noch rechtzeitig für die letzte Post«, sagte er und steckte den Umschlag in seine Tasche.
    »Haben Sie ihn für mich eingeworfen?«, fragte der blinde Mann. »Nun, dann danke ich Ihnen, mein Herr, das war sehr freundlich von Ihnen.« Der blinde Mann blieb still stehen und starrte dem sich entfernenden Fremden nach. Gegen all das Weiß konnte er nur einen dunklen Umriss erkennen, wie ein umgedrehtes Ausrufezeichen. Misstrauisch schnüffelte er, aber er konnte lediglich den Rauch einer Zigarette riechen. Vorsichtig ging er, so schnell er es wagte, zu seiner Wohnung zurück, indem er sich den Weg über die Schneeränder mit seinem Stock ertastete. Er hatte den Brief zur Post gebracht, der Alarm war ausgelöst.

6
     
    Aus Eves Tagebuch
     
    Jago hob die Plane auf der Rückseite des Wagens an und hielt sie für mich auf.
    Erneut kletterte ich in die staubigen Requisiten.
    »Gute Nacht«, sagte Jago. »Gute Nacht, Eve.«
    »Ja, gute Nacht, Jago«, sagte ich. »Danke, dass du mich gerettet hast.« Ich lehnte mich zurück in die weichen, staubigen Stoffballen und rollte mich so klein zusammen, wie ich nur konnte. Als ich dalag und dem Wind lauschte, der durch die Bäume fuhr, musste ich unwillkürlich an den armen Jack irgendwo da draußen denken, der mein Verschwinden inzwischen ganz sicher bemerkt haben musste.
    Schließlich überkam mich ein Gefühl der totalen Unwirklichkeit, des Alleinseins und des Abgeschnittenseins von allem, was mir vertraut war. Luftschiffe brummten in regelmäßigen Abständen über uns hinweg und das bekannte Dröhnen ihrer Motoren ließ mich endlich einschlafen.
    Als ich plötzlich erwachte, war es stockfinster, das Gebell von Hunden war zu hören und das klirrende Geräusch von Metall auf Metall.
    Ich setzte mich zwischen den warmen Decken auf; die Zeltplane war von außen fest mit Schnüren verzurrt. Ich spürte ein Rumpeln. »Was ist passiert, was ist das?«, rief ich in die Dunkelheit. Das Jaulen und Knurren der Hunde hörte sich an, als seien sie ganz dicht am Wagen. Mein

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