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Pastworld

Pastworld

Titel: Pastworld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Beck
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bitte auch probieren?«, fragte ich.
    »Du kannst nicht einfach auf dem Seil anfangen«, erwiderte Jago. »Es gehört mehr dazu, als nur über eine gerade Linie zu laufen und zu tanzen. Außerdem ist es gefährlich.«
    »Lass es mich nur einmal ausprobieren, bitte.«
    Jago sah mich aus seinen dunklen Augen ernst an. »Du willst es wirklich versuchen?«
    »Oh, bitte«, sagte ich.
    Der starke Mann redete Jago zu.
    »Komm schon, Jago«, sagte er. »Warum soll sie es nicht mal versuchen? Sie hat die Figur dafür und ist meiner Meinung nach auch kräftig genug. Ich fang sie auf, wenn sie fällt. Ha ha, so ein hübsches kleines Ding.«
    Also legte mir Jago ein ledernes Sicherungsgeschirr um die Taille und überprüfte Schnalle und Seil. Der starke Mann hob mich hoch und ich hielt mich so gerade, wie ich nur konnte. Dann stand ich hoch oben auf einer kleinen hölzernen Plattform an einem Ende des Seils, mindestens viereinhalb Meter über dem Platz. Mir war kalt. Nervös bewegte ich die Zehen, während Jago mich ein bisschen von der Plattform hochhob, um das Stützseil zu testen.
    »Denk dran, versuch nicht, nach unten zu gucken«, sagte er. »Wenn dir schwindlig wird, bleib still stehen und atme langsam. Vergiss nicht, dass du sicher bist: Du trägst das Sicherungsgeschirr und wenn du fällst, dann hängst du im Sicherungsseil, also gerate nicht in Panik.«
    Als ich so weit war, hatten sich einige der Wagen bereits zu anderen Teilen der Stadt aufgemacht. Der starke Mann war dageblieben, um Jago zu helfen. Ich sah, wie er sich an einer Kohlepfanne wärmte. Ich war selbst schuld, ich hatte darum gebettelt, das Seil ausprobieren zu dürfen, ich wollte es unbedingt probieren, aber das bedeutete, ich musste es auf die harte Tour lernen.
    Ich betrat das Seil. Ich hielt meine Füße dicht beieinander, einer hinter dem anderen gerade ausgerichtet. Ich verspürte den instinktiven. Drang, meine Zehen um das Seil herum zu krümmen, aber das Seil war zu dick.
    Ich taumelte und streckte beide Arme parallel zu meinen Schultern aus. Dabei schaute ich starr geradeaus auf den gegenüberliegenden Pfahl, sechs Meter von mir entfernt. Ich hob mein Bein und fühlte, wie sich das Gewicht auf das andere Bein verlagerte. Zuerst schaffte ich es nicht, ein Bein vor das andere zu stellen, und fing an zu schwanken. Ich ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Und schon hing ich im Sicherungsseil, das Geschirr presste mir die Brust zusammen und ich stieß sichtbare Atemwölkchen aus. Ich schwang an Jago vorbei, der oben auf der Leiter stand. Er lächelte mich an, als wollte er sagen: »Ich hab’s dir ja gesagt.« Als ich hochgehoben und wieder auf die Plattform gestellt wurde, fasste ich neuen Mut. Gleichzeitig krampfte sich mein Magen ein wenig zusammen.
    »Keine Panik«, sagte Jago. »Geh einfach vertrauensvoll und langsam geradeaus, als würdest du über einen Gehsteig laufen und dürftest nur auf die Ritzen treten, ein Fuß nach dem anderen. Hast du das als Kind nie gespielt?«
    »Nicht dass ich wüsste«, sagte ich.
    Einen Augenblick lang stand ich vornübergebeugt da, atmete schwer und legte die Hände auf die Knie. Dann richtete ich mich auf und versuchte es noch einmal.
    Ermutigt durch Jagos Lächeln und einen anerkennenden Pfiff des starken Mannes versuchte ich es dieses Mal mit mehr Geschwindigkeit. Ohne nachzudenken, ging ich mit ausgestreckten Armen einfach los. Ich stellte mir vor, dass das Seil unter meinen Füßen eine breite Straße war, die sich rechts und links von mir erstreckte. Ich wollte es Jago beweisen! Ich überquerte das Seil und dieses Mal machte der Himmel keinen Purzelbaum und das Geschirr schnürte mir nicht die Brust zusammen.
    »Das war viel besser, sehr gut, wirklich erstaunlich«, sagte Jago. »Mach’s noch mal, aber versuch, nicht zu rennen, bevor du gehen kannst.«
    Den restlichen kalten Vormittag verbrachte ich auf dem Seil und übte immer und immer wieder. Der starke Mann saß zusammengekauert an der Kohlepfanne, wärmte sich und sah mir zu, während Jago auf das Seil aufpasste. Meine Beharrlichkeit und Jagos Geduld schienen ihn zu beeindrucken. Trotz der Kälte und der gefährlichen Höhe wurde ich immer sicherer, je öfter ich das Seil überquerte. Schließlich zählte ich gar nicht mehr mit. Dann war Jago an der Reihe. Er kletterte das Stützseil hoch und stand hüpfend mitten auf dem Seil, er balancierte auf einem Bein und verdrehte die Hüften. In einer Hand hielt er seinen bunten, geflickten

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