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Pastworld

Pastworld

Titel: Pastworld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Beck
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in der Luft. Ich erfand meine eigenen Bewegungen. Ich improvisierte und die Menge tobte. Wie eine Wilde überquerte ich das Seil, tanzte, hüpfte und drehte mich immer wieder aufs Neue. Plötzlich verspürte ich eine große Sicherheit, eine totale Kontrolle über mein Gleichgewicht.
    Ich wusste, ich würde nicht fallen, ich konnte gar nicht fallen. In diesem Moment der akrobatischen Selbstdarstellung fand ich nicht nur zu meiner wahren Berufung, er war auch meine Rettung.
    Die Menge sah, dass ich völlig ungesichert war, dass kein verstecktes Seil mich festhalten noch ein Netz mich auffangen würde. Die Basstrommel schwieg und das Hörn verstummte.
    Im Schneegestöber tanzte ich ganz allein auf dem Hochseil. Ich tanzte mit und zwischen den Schneeflocken hindurch. Ich fühlte, wie kalt sie waren, wenn sie auf meiner Haut landeten. Es schien, als hätte ich die Zeit fast angehalten, ich sah den Schnee ganz langsam fallen. Ich hielt in der Bewegung inne und stand ganz still, mitten auf dem durchhängenden Seil. Ich hob die Arme hoch über meinen Kopf und verbeugte mich. Tosender Applaus brach los, die Zuschauer schrien und brüllten begeistert. Ganz offensichtlich hatte ich sie in Erstaunen versetzt. Und Jago ebenso. Mit den Trommelstöcken in der Hand blickte er zu mir hoch, völlig entgeistert und mit weit offenem Mund. Ich glaube, ihm wurde gerade klar, dass er im Begriff war, ein Vermögen zu verdienen.

15
     
    Die Leiche des blinden Mannes lag ausgestreckt halb im Rinnstein, halb auf dem Gehsteig. Ein bewaffneter zerlumpter Mann stand neben ihr Wache, während der Regen das Blut wirbelnd in den nächsten Abfluss spülte. Eine Gruppe von Zuschauern glotzte auf die Szene. Sie standen zusammengedrängt unter Regen-und Sonnenschirmen oder hielten sich die Abendzeitung über den Kopf. Einige ließen sich unbekümmert nass regnen. Ein Bobby im Regenumhang kam näher. Mit seinem Knüppel schubste und stieß er die Leute beiseite und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Der zerlumpte Mann drehte sich zu ihm um. Der Polizist richtete seine Laterne auf die Leiche.
    »Nun?«, sagte er.
    »Ein junger Bursche hat ihn erstochen, ein Bursche in einem schwarzen Anzug, er trug eine Totenkopfmaske über dem Gesicht, schwarze Haare, dünn, er ist entkommen.«
    Der Polizist wandte sich an die Menge: »Hier gibt’s nichts zu sehen, gehen Sie bitte weiter. Sie übertreten das Gesetz, wenn Sie hier stehen bleiben!« Mithilfe seines Knüppels trieb er sie auseinander, bis sie sich murrend und schimpfend allmählich zerstreuten und im feuchten Nebel verschwanden.
    »Ich nehme an, Sie werden mir jetzt gleich erzählen, dass dies hier ein ›nützlicher‹ Körper ist«, sagte der Polizist leise.
    »Sehr nützlich sogar«, entgegnete der zerlumpte Mann verschwörerisch und holte ein kleines Bündel weißer Banknoten hervor, das mit roter Schnur zusammengebunden war.
    »So nützlich?«, fragte der Polizist.
    »So nützlich«, bestätigte der zerlumpte Mann.
    Der Polizist nahm die Scheine. »In diesem Fall werde ich die Leiche als vermisst melden – und zwar bereits bei meinem Eintreffen. Wir lassen eine Beschreibung der Tat drucken und sorgen für eine alsbaldige Verteilung von Steckbriefen.«
    »Das wäre wohl das Beste«, sagte der zerlumpte Mann. »Junge Mörder wie dieser hier müssen gefasst werden. Es gibt nur eine einzige Strafe, die sie verstehen.«
    Er hielt sich die großen behandschuhten Hände an die Kehle und ließ seine Augen hervorquellen. Der Polizist nickte, rückte seinen Umhang zurecht, steckte die Rolle mit den Banknoten in eine Innentasche und ging, den Zerlumpten und die Leiche hinter sich lassend, den Hügel hinunter.
    Sekunden später tauchten weitere zerlumpte Männer wie aus dem Nichts auf. Gemeinsam hievten sie die durchnässte Leiche des blinden Mannes aus dem Rinnstein. Sie holten einen alten Krankenhauskarren aus einem dunklen Torweg und ließen die Leiche mit einem dumpfen, feuchten Plopp auf die zerkratzte hölzerne Ladefläche fallen. Einer von ihnen warf ein Stück Sackleinen über den Körper, dann zog er einen weißen Krankenpflegerkittel über seine Lumpen und zerrte den Karren eine enge kopfsteingepflasterte Gasse hinunter. Die anderen gingen ihrer Wege.

16
     
    Caleb rannte über die Straße und tauchte im Gewirr der Menge auf dem gegenüberliegenden Gehsteig unter. Hinter sich hörte er einen der zerlumpten Männer rufen: »Haltet ihn! Er is’n Mörder! Er hat Blut an den Händen!« Caleb warf

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