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Pastworld

Pastworld

Titel: Pastworld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Beck
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handelte, um eine Imitation des wirklichen Lebens.
    Schon bald trat ich vor größerem Publikum auf. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem ich ein schwingendes weißes Kleid trug. Oftmals erlebte ich Augenblicke echter Angst, wenn ich oben auf dem Stützpfeiler stand und die Menge sich unter mir versammelt hatte. Am Fuß der Leiter stand Jago mit seiner Ein-Mann-Band-Ausrüstung, betätigte die Basstrommel mit dem Fußpedal und spielte eine zittrige kleine Melodie auf dem Hörn. An diesem Nachmittag stand ein Harlekin von einem der anderen Wagen auf halber Höhe der Leiter und schaute zu mir hoch. Er hielt den Balancier-Sonnenschirm in der Hand, falls ich glaubte, ihn zu brauchen. Wie üblich wollte ich Jago beweisen, wie beeindruckend meine Fähigkeiten auf dem Seil waren. Meine Füße passten genau auf die kleine Plattform am oberen Ende des gestreiften Pfahls. Jetzt war Schluss mit Sicherheitsgeschirr und Netz und zweiter Chance; ich war ganz auf mich allein gestellt. Auch der starke Mann stand irgendwo in der Menge bereit für den Fall eines Sturzes. Das Hörn hörte auf zu spielen und Jago begann mit einem lauten Trommelwirbel auf der Snare Drum, der in der kalten Luft schepperte und hallte. Wenn er zu Ende war, würde ich über das Seil auf die andere Seite laufen, ohne mich umzudrehen. Ich sah zu Jago hinunter und nickte. Der Harlekin hielt mir den Sonnenschirm hin, aber ich schüttelte den Kopf. Schließlich endete der Trommelwirbel.
    Unten in der bunt gekleideten Menge befand sich eine Gruppe von Leuten, deren Aufgabe es war, die Kohlepfannen am Brennen zu halten. Sie trugen Lederhandschuhe und Schürzen und stocherten mit langen Eisenstäben in der Kohle herum. Helle orangefarbene Funken stoben in die kalte Luft empor wie Feuerwerk. Ich sah vergnügte Muffinhändler und Schweinepastetenverkäufer und ganz vorn in der Menge stand ein Junge, der ungefähr so alt zu sein schien wie ich. Er war mir schon bei früheren Aufführungen aufgefallen, weil er etwas an sich hatte, was mir gefiel. Irgendetwas an ihm zog mich an. Es war ein komisches Gefühl, eins, was ich noch nie verspürt hatte.
    Er schaute nach oben und beobachtete mich ganz genau. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber ich freute mich, ihn zu sehen, und mein Herz schlug ein bisschen höher. Er hatte so ein nettes Lächeln im Gesicht. Unsere Blicke trafen sich, doch in diesem kurzen, stillen Moment, während die Menge schweigend und erwartungsvoll dastand, machte es mich nervös und ich verlor kurz das Gleichgewicht auf dem Seil. Die Menge stöhnte auf. Ich hatte mich rasch wieder im Griff, aber die Stille von unten war ohrenbetäubend. Wohlüberlegt setzte ich einen Fuß vor den anderen und Jago schlug wieder auf die Basstrommel ein. Auf halber Strecke kam ich ins Stolpern. Das Seil senkte sich in der Mitte und obwohl ich so dünn war wie Jago und so leicht wie eine Feder, schwankte das Seil in der kalten Luft von einer Seite auf die andere. Ich fröstelte und bekam Gänsehaut auf den Armen. Der Wind löste meine Haare und wehte sie mir ins Gesicht. Die Basstrommel schepperte weiter und ich hatte einen Moment lang das Gefühl, festgeklebt zu sein. Ich konnte weder vor noch zurück. Ein paar Gaffer aus der Menge riefen mir etwas zu. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber jedes Wort wurde von Gelächter begleitet. Mit einem Teil meines Verstandes dachte ich an den Balancier-Sonnenschirm und für den Bruchteil einer Sekunde wünschte ich, ich hätte ihn genommen. Ich reckte den Hals und schaute mich um. Der Harlekin stand jetzt fast oben auf dem gestreiften Pfahl und hielt mir für alle Fälle den geöffneten Schirm hin. Ich griff danach, aber eine plötzliche Windbö und aufwirbelnder Schnee riss ihn ihm aus der Hand. Wir sahen zu, wie er über den Köpfen der Zuschauer davonflog.
    Die Basstrommel schwieg. Die Menge sah fasziniert hinter dem bunten kleinen Sonnenschirm her, der sich drehte und wendete, und ließ mich einen Moment lang aus den Augen. Es wurde Zeit zu reagieren; rasch rannte ich über das Seil. Ich rannte den ganzen Weg zurück, den ich gekommen war, mit weit ausgestreckten Armen, als würde ich hinter dem verlorenen Schirm herlaufen. Ich war so schnell, dass die Umstehenden glaubten, ich würde stürzen. Ein lauter Schrei ertönte von unten. Dann drehte ich mich um und lief denselben Weg erneut zurück, nur dieses Mal noch schneller. Die Menge brach in Applaus aus. Ich tanzte auf dem Seil, ich sprang und drehte mich

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