Pastworld
Sonnenschirm. Er warf ihn in die Luft und der Schirm überschlug sich. Als er herunterfiel, fing er ihn auf, und der Sonnenschirm landete verkehrt herum auf seinem hoch erhobenen Kopf. Ich stand fröstelnd auf der Plattform und war wieder einmal beeindruckt von Jagos Fähigkeiten. Wenn ich nur einen Bruchteil dieses Talentes entwickeln könnte, dachte ich, dann dürfte ich vielleicht hierbleiben und mich für immer bei ihnen verstecken. Alles lieber als zurückgehen und ein falsches Leben voller Furcht in diesem kleinen Dachzimmer zu führen. Ich hatte etwas gefunden, was ich tun konnte und wohl auch gut konnte. Vielleicht würde das mein Fahrschein in die Freiheit und in ein neues Leben sein.
Jago schien von meinen Fortschritten überrascht zu sein und wirkte zufrieden, als wir die Sachen in seinen Wagen luden. Er erlaubte mir, das klapprige Pferd anzuschirren. »Wo hast du das gelernt? Offenbar hast du das nicht zum ersten Mal gemacht …«, fragte er.
»Ich sag dir doch, das hab ich noch nie gemacht«, erwiderte ich. »Ich hab einfach nur gespürt, dass ich es konnte.«
»Nun«, sagte er, »ich finde wirklich, dass wir etwas aus dir machen könnten.«
»Wie heißt das Pferd?«, fragte ich.
»Sie heißt Pelaw«, antwortete Jago. »Sie hat die gleiche Farbe wie Pelaw-Schuhcreme, deshalb habe ich sie so genannt.«
»Pelaw«, sagte ich. Das Pferd schnaubte leise, zeigte die Zähne und schüttelte die Mähne. »Sie kennt ihren Namen«, sagte ich.
»Oh ja«, sagte Jago, »sie kennt ihren Namen.«
Die Frau mit dem Katzenkragen wärmte sich an der Kohlepfanne. Dann kam sie auf mich zu.
»Jetzt weiß ich, wer du bist, Schätzchen. Gerade ist es mir eingefallen. Du bist das Mädchen, das manchmal mit Jack unterwegs ist, in der Nähe meiner Wohnung«, sagte sie. »Du bist bestimmt seine Tochter, oder?«
»Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem«, behauptete ich frech und wurde in der kalten Luft rot.
»Tut mir leid, Schätzchen, ich hätte es schwören können«, sagte sie und starrte mich einen Moment lang unverwandt an, während sie den Hals ihrer Katze streichelte.
Sie wusste, dass ich log.
Ich verbrachte eine glückliche Zeit mit Jago und der Familie der anderen Fahrensleute. Für Jago bestand mein Geheimnis nicht darin, wo ich hergekommen war und warum, sondern in meinen unerklärlichen Fähigkeiten und meinem Gleichgewicht auf dem Seil. Wo hatte ich das her?
Ich begann, zusammen mit der Gruppe der Harlekine auf Marktplätzen und an Straßenecken aufzutreten. Wir bereisten gemeinsam unsere Route entlang den Außenbezirken der Stadt. Allmählich begriff ich, welche Kluft zwischen den »offiziellen« Bettlern und den Horden der abgerissen aussehenden Illegalen herrschte, die uns tagtäglich begegneten und vor denen wir auftraten. Mir war klar, dass ich mein neues Leben, mein echtes Abenteuer fortführen musste. Ich hatte einen seltsamen, natürlichen Instinkt für das Seil. Nach wenigen Tagen konnte ich über das Seil rennen und hüpfen, denn jetzt kam es mir wirklich vor wie eine breite Straße. Ich war voller Selbstsicherheit und Jago war zufrieden mit mir.
Ein paar Tage später sprach mich die Frau mit der Katze von Neuem an. »Du bist es doch, Schätzchen, stimmt’s? Ich habe recht gehabt«, sagte sie. »Ich weiß es genau, weil ich den armen Jack auf der Straße getroffen habe und er mir erzählt hat, dass du fortgelaufen bist und er sich schreckliche Sorgen um dich macht.«
Es gab keinen Grund, weshalb ich Jack grausam behandeln sollte, selbst wenn er mich versteckt und mir die Wahrheit über meine Situation verschwiegen hatte.
»Sie haben recht«, sagte ich. »Ich bin weggelaufen. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Aber es geht mir gut, ich bin in Sicherheit und möchte bei Jago bleiben.
Vielleicht könnte ich eine Nachricht schreiben und Sie geben sie Jack, damit er sich keine Sorgen mehr macht?«
»Ich finde, das ist das wenigste, was du tun könntest. Es wäre für den armen Jack sehr tröstlich.«
Also schrieb ich ihm eine beruhigende Nachricht und gab sie der Dame mit der Katze. Sie sagte, sie würde sie an Jack weiterleiten. Mein Gewissen war rein. Jack hatte mich in Unwissenheit aufgezogen. Er hatte mir nicht ein einziges Mal von meinem Vater und meiner Mutter erzählt. Und nie hatte er erwähnt, aus welchem Grund er mir fast alles verheimlicht hatte. Und er hatte mich in dem Glauben gelassen, dass die Welt um uns herum die einzig wahre sei, obwohl es sich um eine Illusion
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