Pastworld
an.
Jago verbrachte einen Nachmittag lang im Inneren des Wagens, wo er sägte und hämmerte. Hinterher zeigte er mir, was er getan hatte.
»Das ist ein Fluchtweg, ein doppelter Boden, wie die, die wir beim Zaubern verwenden«, sagte er. »Von hier aus kannst du dich aus dem Wagen rollen und flüchten, wenn es sein muss. Man weiß nie, wann das mal für dich oder auch für einen von uns nützlich sein könnte. Wenn die zerlumpten Männer hinter dir her sind, kann man gar nicht vorsichtig genug sein.«
Jedes Mal, wenn ich auftrat, jedes Mal, wenn ich in meinem weißen Musselinkleid auf dem Seil tanzte und mich drehte, fiel mir der freundlich aussehende Junge mit dem breiten Lächeln auf. Jedes Mal stand er ganz vorn in der Menge. Ich hielt nach ihm Ausschau und entdeckte ihn immer sofort, erkannte ihn auf Anhieb unter all den Leuten. Ich spürte, wie seine Blicke mich über das Seil verfolgten. Aus irgendeinem Grund schienen sich neben den vielen Blicken aus der Menge immer nur seine dunklen Augen in mich hineinzubohren.
Jago sagte: »Ich glaube, du hast einen Verehrer, Eve. Da ist ein junger Mann, der immer wiederkommt. Ich bin nicht sicher, ob du ihm trauen kannst.«
Eines Nachmittags schließlich kam der Junge nach der Aufführung auf mich zu. Er stellte sich zu Pelaw, der Stute, und kraulte ihre Ohren. Er bemühte sich um ein gleichgültiges Aussehen und vermied es, mir in die Augen zu sehen, als ich die Stufen zum Wagen hinaufstieg. Er sprach mich zwar nicht an, aber ich bemerkte ihn trotzdem. Jago schickte ihn fort. Er beschützte mich immer sehr gewissenhaft.
»Mach dir keine Sorgen, Jago«, sagte ich. »Lass ihn das nächste Mal ruhig zu mir kommen und mit mir reden.«
Wieder tauchte der Junge bei den Wagen auf. Jago sah mich aus seinen freundlichen braunen Augen an, als wollte er fragen: »Soll ich ihn wegschicken?« Ich schüttelte den Kopf und bedeutete dem Jungen, näher zu kommen.
Er hatte ein überaus freundliches Gesicht, lächelnde Augen und dichtes, strubbeliges Haar. Eigentlich sah er ganz durchschnittlich aus, weder blond noch dunkel, weder groß noch klein. Er machte einen schüchternen Eindruck, wie er so dastand mit seiner Mütze.
»Ich finde Sie ganz fantastisch da oben auf dem Seil, Miss. Keine Ahnung, wie Sie das anstellen«, sagte er verlegen und schaute auf meine Füße.
»Danke«, erwiderte ich. »Reine Übungssache, glaube ich.«
»Ich bin …«, er zögerte, grinste und nannte dann seinen Namen. »Mein Name ist Japhet McCreddie, jedenfalls da, wo ich arbeite, für meine Freunde bin ich BibleMac.« Er streckte die Hand aus und ich nahm sie.
So fing es an, dass BibleMac mich nach meinen Auftritten besuchte (und auch, wie ich vermutete, das Pferd). Er kam mindestens zwei- bis dreimal in der Woche. Er sagte, er wäre ständig für seinen Arbeitgeber, einen Mr William Leighton, »auf Achse«, machte Besorgungen und dergleichen.
Jago hatte schon von Mr Leighton gehört. »Er veranstaltet spiritistische Sitzungen in seinem Haus und berechnet dafür ein Vermögen. Insgeheim ist er ein Ganove, ein Dieb«, sagte er. »An deiner Stelle würde ich mich vor BibleMac und Mr Leighton in Acht nehmen.«
29
An einer der Wände, gegenüber einem mit einem Eisengitter versehenen Fenster, hing ein langes weißes Tuch. Davor standen eine Messinglampe mit Ständer und ein hoher Stuhl. Ein Polizist hielt einen rechteckigen Gegenstand in der Hand. Die Frau rief eine Folge von Zahlen aus.
»Eins, neun, zwei, vier, acht.«
Der Polizist schrieb die Zahlen mit Kreide auf eine Tafel mit Holzrahmen, an der ein Bindfaden befestigt war. Dann hielt er die Tafel hoch.
Die Frau warf einen Blick darauf und nickte. Der Beamte hängte Caleb die Schiefertafel so um den Hals, dass sie auf Brusthöhe hing. Die Schwester in ihrer gestärkten Uniform nahm einen Metallkamm, fuhr damit durch seine dicken Haare und strich sie ihm aus dem Gesicht.
»Wenigstens keine Nissen«, sagte sie barsch.
In der Nähe stand eine altmodische Kastenkamera, der Caleb jetzt Auge in Auge gegenüberstand. »Dauert nicht lange«, sagte der Mann im weißen Kittel.
Caleb wurde auf den hohen Stuhl gesetzt. Mit dem Nacken steckte er in einer Metallklammer, sodass er den Kopf nicht bewegen konnte. Er fühlte, wie seine Beine zitterten. Eine Gruppe von Gaffern schaute neugierig von der anderen Seite des Raumes aus zu.
Die Schiefertafel war erstaunlich schwer und er spürte, wie der Bindfaden ihm in den Hals schnitt. Der
Weitere Kostenlose Bücher