Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
fast so wie bei ihrer damaligen Arbeit als Empfangsdame im Hotel »Palace« in Almuñécar. Es war nicht ihr Traumjob, aber sie war froh, überhaupt eine Arbeit in München gefunden zu haben, und sie musste nur noch wenige Wochen arbeiten, danach könnte sie zu Hause ihr Kind großziehen. Es würde ein Junge werden, sie wollten ihn Xaver taufen, und in drei Monaten sollte es so weit sein, meinte der Gynäkologe.
Nachdem er alle Utensilien im Abstellraum bereitgestellt hatte, machte Kilian sich als Erstes daran, die hässliche Deckenlampe zu demontieren, um stattdessen eine hübsche, dunkelblaue Mondlampe anzubringen. Dazu musste er die Paneele der falschen Zimmerdecke so weit verschieben, dass er mit Kopf, Händen und einem Schraubenzieher in den Zwischenraum passte. Er wischte sich den Staub aus den Augen und setzte den Schraubenzieher an, zögerte jedoch, als er weiter hinten etwas liegen sah. Kilian stieg die Leiter hinunter, versetzte sie und hob jenes Paneel der Zwischendecke an, von dem er glaubte, dass sich darüber der Gegenstand befand. Erneut rieselte ihm Staub entgegen, aber nach einer weiteren Stufe lag das Ding direkt vor seiner Nase: ein Kuvert. Kilian schüttelte den Staub von dem Papier, nieste, und stieg mit dem Kuvert in den Händen wieder von der Leiter.
Es war ein brauner Umschlag in DIN-A4-Format und Kilian stutzte, als er die Adresse las: »Joana Ramos Ortiz. Apartado de Correos Nº 649. 18690 Almuñécar.« Der Brief, dem der Absender fehlte, musste also zu der Zeit versandt worden sein, als Joana noch in Almuñécar wohnte. Es dauerte eine Weile, bis er sich der Bedeutung des verblichenen Datums auf dem Poststempel bewusst wurde. Der Brief war drei Tage nach Xavers Tod abgeschickt worden und lag nun hier im Abstellraum versteckt. Kilian schluckte und wischte sich die Handflächen an seinen Jeans ab. Hatte Joana Geheimnisse vor ihm?
Er setzte sich auf einen Kasten Bier und zog acht handgeschriebene Blätter in spanischer Sprache aus dem Kuvert. Seitdem er mit Joana zusammen war, interessierte er sich auch für ihre Sprache und befand sich mittlerweile auf Stufe zwei für Fortgeschrittene an der Münchner Volkshochschule. Immer öfter unterhielt er sich mit Joana bereits auf Spanisch, und ihr Sohn Xaver würde zweisprachig aufwachsen.
Kilian blätterte den Brief flüchtig durch, blieb zwar an einigen Satzpassagen hängen, aber hielt sich nicht weiter mit Details auf, bis er die letzte Seite in der Hand hielt. Er erschrak, als er feststellte, wer unterschrieben hatte, und war unschlüssig, was er nun tun sollte. Das Naheliegendste wäre, den Brief wieder dorthin zurückzulegen, wo er wohl schon seit ihrem Einzug in die gemeinsame Wohnung verwahrt wurde, und so zu tun, als ob nichts gewesen sei. Der Brief würde doch nur alte Wunden aufreißen und vor allem war er nicht an ihn gerichtet. Allein schon, wenn er die Seiten las, würde er seine geliebte Joana hintergehen, in einer Form, in der er es bisher nicht einmal zu denken gewagt hatte. Andererseits nahm er an, dass diese Blätter vieles erklären könnten. Seit den Vorfällen in Almuñécar hatten er und Joana kaum mehr über jene Zeit gesprochen. Joana wollte vergessen und in die Zukunft blicken – und so war dieses Thema für sie beide tabu.
Er selbst aber konnte nicht anders, als sich immer wieder die Frage zu stellen, was damals wirklich mit seinem Bruder geschehen war. Er wunderte sich auch, wieso Joana anscheinend das Interesse am Schicksal ihrer Mutter verloren hatte, oder beschäftigte es sie doch noch und sie schwieg nur darüber? Was ihm außerdem suspekt vorkam, war der Umstand, dass Joana kein Wort mehr über ihre Schwester verlor, Carmen, die ja offiziell immer noch als vermisst galt. Und so wundersam es auch wäre, Carmen könnte ja schließlich eines Tages doch wieder auftauchen. Womöglich befand sie sich seit all den Jahren in den Fängen einer Sekte? Kilian dachte an die fingierte SMS zurück, die jemand in Carmens Namen verfasst hatte. Welchem Zweck hatten diese Täuschung und die anschließende Entführung gedient?
Wieder dachte er an Carmen. Soweit er wusste, pflegte Joana keinerlei Kontakt mehr nach Spanien. Falls Carmen aber tatsächlich noch lebte, konnte sie demnach kaum wissen, dass ihre ältere Schwester nun in München wohnte. Wäre es nach Joanas überstürztem Umzug nach Deutschland also nicht völlig normal, gelegentlich bei der Guardia Civil in Almuñécar anzurufen und nachzufragen, ob sich bei den
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