Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
nicht. Diesen fürchterlichen Blick habe ich nie vergessen können und seit Carmen vor zwei Jahren verschwand, musste ich immer wieder und immer häufiger an den Blick und an die Warnung Deines Vaters denken.
Ich schreibe Dir das alles aber nicht, um mein Vorgehen zu rechtfertigen. Ich bitte Dich auch nicht um Vergebung für meine Entscheidung, einige Wochen früher aus dem Leben zu scheiden, als der allmächtige und gütige Herr es für mich vorgesehen hat …
Kilian zupfte an seinem Kinnbart. Inmaculada hatte sich selbst getötet? Mein Gott, er durfte das nicht lesen, aber jetzt war es schon zu spät …
… Aber dieser Blick und die Androhung Deines Vaters, Carmens Lächeln auf meinen Familienfotos, die Trauer, der Krebs, all das trieb mich zu dieser Verzweiflungstat: Joana, ich habe den deutschen Urlauber umgebracht!
Kilian sprang auf, als hätten sich die schwarzen Buchstaben auf dem Papier binnen eines Augenblicks in lebendes Gewebe verwandelt und zu einer Tarantel geformt, die nun langsam auf ihn zukroch. Sein Stuhl kippte um und fiel polternd zu Boden. Den Blick starr auf den Brief gerichtet und die Hände vor den Mund gelegt, wich er zurück, bis er gegen die Wand stieß, an der er sich kraftlos zu Boden sinken ließ. Inmaculada? Joanas Mutter? Seinen Bruder ermordet … Aber warum? Nein, das konnte nicht sein! Hatte er sich verlesen? Tränen traten ihm in die Augen, als er daran dachte, dass Joana dies alles bereits seit dem Tod ihrer Mutter wissen musste. Sie hatte das schreckliche Geheimnis vor ihm verborgen. Ein weiterer Gedanke formte sich in seinem Hirn. Dass Joana ihm das verheimlichte, konnte nur bedeuten … Er wollte nicht mehr weiter spekulieren. Er musste weiterlesen, um zu verstehen, auch wenn ihm davor graute. Er hob den Stuhl auf, setzte sich und seine Knie schlotterten unter der Tischplatte, als er sich wieder über den Brief beugte.
… Ich habe einen unschuldigen Menschen ermordet. Er hat mir nichts getan. Was zählt es also, dass es ein Versehen war? Es wird diesen jungen Menschen, der vielleicht sogar eine Familie und Kinder hatte, nicht wieder lebendig machen …
Kilian wischte sich die Augen. Xaver wurde versehentlich vergiftet? Aber wie kam es dazu? Diese Geschichte wird ja immer fantastischer .Er las weiter, obwohl ihm vor Aufregung übel wurde.
… Ich habe den jungen Deutschen sogar noch kennengelernt, als er mich nach dem Weg fragte und ich wegen meiner schrecklichen Tat im Hotel wie von Sinnen war. Was gibt es Schlimmeres, als einen Menschen zu töten, Joana? Mit dieser Last kann ich nicht weiterleben, nicht einmal die paar Wochen, die mir noch bleiben …
Kilian überlegte, was es mit der »entsetzlichen Tat« auf sich haben könnte, die Inmaculada im Hotel angeblich begangen hatte. Entsprang dieser Brief am Ende nur der Fantasie eines wirren Geistes? Sollte er ihn gar nicht weiter ernst nehmen? Aber wieso sollte Inmaculada diese Geschichte denn erfunden haben?
Alles begann mit dem Anruf des Mädchens. Sie sagte immer wieder, es täte ihr leid um Carmen und schluchzte ins Telefon. Ich selbst brachte kein einziges Wort heraus, weil ich hoffte, doch noch etwas über Carmens Schicksal zu erfahren. Das Mädchen meinte, sie selbst könne mit diesem Geheimnis nicht mehr weiterleben, aber sie wollte ihren Namen nicht nennen und sprach seltsam verstellt, doch ich glaubte die Stimme zu kennen. Aber das war mir in diesem Moment nicht wichtig, denn das Mädchen erzählte mir, was genau in jener Nacht passierte, als Carmen verschwand. Als lange nach dem Gespräch meine Tränen versiegten, habe ich überlegt, ob ich es Dir sagen soll oder ob Du es überhaupt wissen möchtest. Aber ich denke, dass die Trauer über Carmens Tod schneller verblasst als die vergebliche Hoffnung auf ihre Rückkehr, die ja auch Dein Leben beschwert. Joana, Deine Schwester wurde …
Er fluchte, weil er das entscheidende Wort atropellada nicht verstand, und war so vollkommen von der Rolle, dass er den Begriff zunächst am Ende seines Wörterbuchs zu suchen begann. Als er dem Wort schließlich auf den vorderen Seiten näher kam, klingelte sein Handy. Er zögerte, obwohl mi amor am Display aufblinkte.
»Hallo Schatz!«, antwortete er mit gekünstelter Fröhlichkeit, aber selbst in seinen Ohren klang seine Stimme belegt.
»Bist du schon vom Baumarkt zurück?«, fragte Joana.
»Was? Ach so … ja, ja«, stotterte Kilian.
»Und wie kommst du voran?«
»Hm, mit was …? Was hast du gefragt?«
»Mit der
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